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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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Steine gleiten. Das alte Mauerwerk war von Spalten und Rissen durchzogen. An einigen Stellen waren Brocken herausgeplatzt, und in den Löchern und Fugen konnte man Halt finden. Vielleicht.
    Er ging zu Malina zurück.
    «Es gab mal einen Jungen», sagte er. «Er war viel größer und stärker als ich. Er meinte, mich herausfordern zu müssen. Wir sind in die Berge gegangen und haben eine steile Wand gesucht. Dann haben wir gleichzeitig angefangen zu klettern. Er stürzte auf halber Strecke ab.»
    «Was hast du gemacht?»
    «Ich habe mich weiter hochgearbeitet. Obwohl ich Todesangst hatte, habe ich die Wand bezwungen.»
    «Hat der andere Junge überlebt?»
    «Er brach sich beide Beine. Die Wunden entzündeten sich, und er starb in jenem Sommer.»
    «Mhm. War es eine hohe Wand?»
    «Nicht halb so hoch, wie es bis zum untersten Fenster ist.»
    Malina nickte nachdenklich. «Es war nur eine Idee …»
    Der Wind war stärker geworden. Eine Strähne fiel in ihr Gesicht. Hakon strich sie weg.
    «Ich bin bereit zu sterben», sagte er und fügte leise hinzu: «Für die Rache.»
    Malina blickte mit ihren blauen Augen zu ihm auf.
    Sie sind schön wie Bergseen, dachte er, so hell und klar, wie wenn die Sonne auf den Grund durchscheint.
    Sie schlang ihre Arme um ihn, und er sah, wie sich ihre Lippen öffneten, aber nicht, um ihm etwas zu sagen. Sie schloss erwartungsvoll die Augen.
    Hakon dachte an Thora. Dass sie erst Ruhe finden konnte, wenn ihr Mörder gerichtet sein würde. Gerichtet durch Hakons Hand.
    Erst dann.
    Er löste sich aus der Umarmung, schlüpfte aus der Mönchskutte, zog sich die Schuhe aus und ging zur Mauer. Er prüfte, ob das Messer fest am Gürtel saß.
    «Werden wir uns wiedersehen?», hörte er Malina fragen.
    Hakon begann zu klettern.

75.
    Er tastete nach einer weiteren Fuge im Mauerwerk, nach einem Riss, irgendetwas. Aber da war nichts mehr. Nichts, in das Hakon seine Finger stecken konnte. Nur Stein, rauer Stein. Hakon klebte an der Wand, etwa fünfzehn Fuß über dem Erdboden, und nun ging es nicht mehr weiter.
    «Nimm die linke Hand!», hörte er Malina rufen. «Links von dir! Da ist ein Loch.»
    Hakon tat, was sie sagte, zog die rechte Hand zurück, schob die Finger in die Fuge neben seiner Schulter, löste die linke Hand und ließ sie langsam nach oben gleiten. Da war das Loch, gerade so tief, dass seine Finger darin verschwanden.
    Malina hatte scharfe Augen. Wasserblaue, scharfe Augen.
    Hakon konzentrierte sich wieder auf die Wand und hievte sich ein weiteres Stück nach oben, holte nacheinander die Füße nach, setzte sie ab, dann die rechte Hand, die endlich einen Halt fand. Langsam ging es weiter, Zug um Zug.
    Einige Steine waren so porös, dass ganze Brocken herausbrachen, wenn er dagegenkam. Staub rieselte herab, und er musste aufpassen, nichts davon in die Augen zu bekommen. Er riskierte dennoch einen Blick nach oben. Das Fenster war noch acht, neun Fuß entfernt, vielleicht etwas mehr. Er kletterte weiter. Je höher er kam, desto schlechter wurde der Zustand des Mauerwerks. Es ging jetzt schneller voran.
    Der Wind wurde stärker. Als das Fenster in greifbarer Nähe zu sein schien, hörte Hakon ein bedrohliches Rauschen, es klang wie das Fauchen eines Dämons und schwoll an zu einem wütenden Knurren. Mit der Wucht eines Hammers prallte die Böe gegen ihn. Die Finger seiner linken Hand gaben nach, rutschten ab, dann die Füße.
    Er hörte Malina schreien, und die Erinnerung an den Jungen schoss ihm durch den Kopf. Hadd, ja, Hadd hieß er. Hadd hatte verloren, weil er zu schnell gewesen war, sich zu sicher war. Er hatte den Respekt vor dem Felsen verloren und dafür mit seinem Leben bezahlt.
    Nur die Finger seiner rechten Hand hielten Hakon noch. Schmerzen loderten auf. Die Finger brannten, als hätte er sie in Glut getaucht.
    Schau nicht nach unten! Konzentrier dich! Verdammt – konzentrier dich!
    Er hob die linke Hand an. Wo war das Loch? Er fand es, ließ die Finger hineingleiten und zog die Füße nach. Die Zehen schabten über raues Gestein, fanden wieder Halt. Und dann war es geschafft. Das Fenster!
    Er schob sich hinein. Die Öffnung war gut fünf Fuß tief und am hinteren Ende dunkel – viel zu dunkel. Etwas stimmte nicht. Da, wo zumindest ein Lichtschimmer aus dem Innern der Kirche hätte zu sehen sein müssen, war nur Dunkelheit. Ein schrecklicher Verdacht beschlich Hakon. Er kroch weiter, und sein Verdacht bestätigte sich. Das Fenster war mit einem massiven Holzladen

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