Das Lied des Todes
seine Fellkappe in die Stirn schob, erkannten sie ihn und eilten, seinen Namen rufend, davon. In den Höfen drehten sich die Menschen nach ihm um.
Hakon ging schnell weiter.
Umgeben von einer brusthohen Steinmauer, stand der Jarlshof am Rande der Stadt. Im Zentrum des Hofs stand das Langhaus. Darin lebten der Jarl, seine Familie und ein Dutzend Knechte, Mägde und Sklaven. Im Schatten des von außen mit Balken gestützten Anwesens duckten sich Schuppen und Wirtschaftsgebäude für Gerätschaften und Heu, das als Tierfutter verwendet wurde.
Hakon ging unter dem Torbalken hindurch, an dem ein außergewöhnlich großes Elchgeweih befestigt war. Jarl Sigurd hatte das Tier vor vielen Jahren erlegt, noch bevor Hakon zu Skadi gekommen war. Tagelang hatte Sigurd dem Elchbullen aufgelauert, bis sich seine Beharrlichkeit auszahlte. Seither war niemals wieder ein so großer Elch in den Bergen bei Hladir erlegt worden. Hakon war damals sehr stolz auf seinen Vater gewesen.
Auf dem Weg über den stillen Hof begegnete ihm niemand. Mit mulmigem Gefühl trat Hakon vor den Eingang des Jarlshauses. Er hob eine Hand, um anzuklopfen, doch dann zögerte er. Er kam sich vor wie ein Besucher, der in der Fremde um Einlass bitten musste.
Da hörte er den Raben auf einem der Schuppen krächzen. Hakon ließ seine Hand wieder sinken, legte sie an den Türgriff und zog die Tür auf.
In der von Feuern erhellten Halle empfingen ihn Wärme und die Gerüche von geräuchertem Robbenfleisch, gemischt mit den Ausdünstungen der Pferde, Schweine und Ziegen, die im hinteren Bereich des Langhauses untergebracht waren. Früher hatte Hakon diese Mischung verschiedenster Gerüche geliebt, jetzt hasste er sie. Sie erinnerten ihn an den Tag, an dem er zuschauen musste, wie Thora starb.
Hakon hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, als jemand seinen Namen rief.
Seine Mutter Bergljot sprang hinter dem Trog auf, wo sie gerade dabei war, einen Brotteig zu kneten. Mit ausgebreiteten Armen lief sie auf ihn zu und umarmte ihn. Hakon ließ seinen Beutel fallen und drückte seine Mutter an sich. Sie reichte ihm nur bis an die Brust, und als er sich zu ihr herunterbeugte, roch er den angenehm vertrauten Duft nach Kräutern in ihrem weißen Haar.
Bergljot löste sich wieder von ihm und trat einen Schritt zurück. Hakon schaute in ihr von Sorgenfalten zerfurchtes Gesicht. Dann glitt sein Blick hinunter zu ihrer linken Hand, an der der Ringfinger fehlte.
Sie hob fragend die Augenbrauen.
Nicht jetzt, dachte er. Ich kann noch nicht darüber sprechen.
«Wo ist mein Sohn?», fragte er stattdessen.
Jetzt lächelte Bergljot wieder, drehte sich um und rief nach Hildirid, der Magd. Hildirid blickte hinter einem Webstuhl auf. Nach Thoras Tod hatte man die junge Frau als Eiriks Amme eingesetzt. Sie erhob sich und verschwand in einem Raum, der von der Halle abgetrennt war. Kurz darauf kehrte sie mit dem kleinen Jungen an der Hand zurück.
Eirik war zwei Jahre alt. Er tapste neben der Magd her, wobei er Hakon aus großen blauen Augen anblickte. Hakon fühlte sich auf schmerzhafte Weise an Thora erinnert.
Rasch kniete er nieder, um den Kleinen zu begrüßen. Doch Eirik blieb zögernd stehen, als müsse er überlegen, wer der große Mann mit dem struppigen Bart und den langen, verfilzten Haaren war. Erst als Hakon Eirik beim Namen rief, hellte sich die Miene des Knaben auf. Er ließ Hildirids Hand los, lief zu seinem Vater und ließ sich in den Arm nehmen.
Da hörte Hakon eine Tür zufallen und schwere Schritte, die sich näherten.
Die Zeit der Wahrheit war gekommen.
Sigurd blieb in gebührendem Abstand stehen und machte keine Anstalten, seinen Sohn zu begrüßen.
«Du bist zurück», stellte er ohne Begeisterung fest.
Hakon schob Eirik zu Bergljot, erhob sich und nickte seinem Vater zu. Sigurd war alt, vielleicht fünfzig. Aber seit Hakon ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien er deutlich älter geworden zu sein. Das Haar, das ihm offen über die Schultern fiel, und sein Bart waren grauer geworden, die Falten tiefer und der Blick härter. Dennoch war Sigurd noch immer ein groß gewachsener Mann, mit kräftigen Armen und Händen, die ein Schwert schwingen oder einem Mann das Genick brechen konnten.
«Du warst lange fort», sagte er. «Warum brauchst du so lange, um einen Mann zu töten?»
Seine Wangenknochen zuckten.
Hakon schwieg und hielt dem bohrenden Blick seines Vaters stand.
Er wusste, dass Sigurd keine Frage gestellt, sondern einen Vorwurf
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