Das Lied des Todes
Grafen eines Tages für das zu richten, was er getan hatte!
Hakon wollte das Pergament schon wieder zurück in die Schatulle legen, als er es sich noch einmal anders überlegte. Er rollte es auseinander und betrachtete im Mondlicht die geheimnisvollen Schriftzeichen. Lesen konnte er sie zwar nicht, aber ihm war klar, dass sie wichtig sein mussten. Daher beschloss er, das Pergament mitzunehmen und stattdessen etwas anderes zurückzulassen – etwas, das dem Mörder vor Augen führen würde, dass er, Hakon von Hladir, ihn verfolgte und nicht ruhen würde, ehe er Vergeltung geübt hatte.
Nachdem Hakon die Kiste wieder verbuddelt und den Stein an die alte Stelle zurückgerollt hatte, machte er sich mit dem Raben auf der Schulter auf den Rückweg.
15.
Mit dem ersten Schnee traf Hakon in Hladir ein.
Die Stadt lag auf einer Landzunge am Ufer des großen Fjords, der weit ins Land Nordmoer reichte. Jenseits der Stadt ragten die Berge schroff und kahl so hoch auf, dass ihre Kuppen in den Wolken verschwanden. Durch den Hafen wirbelten weiße Flocken, als das Schiff an einer der Landebrücken festmachte. Es war ein mit Wein und Getreide beladenes Handelsschiff, das ähnlich gebaut war wie jenes, auf dem Hakon vor einigen Wochen seine Heimat verlassen hatte. Im Hafenbecken lagen nur noch wenige Schiffe. Die meisten hatte man bereits ans Land gezogen, wo sie kieloben den Winter über bleiben würden.
Als Hakon von Bord ging, sah er am steinigen Ufer unterhalb der hölzernen Stadtmauer mehrere Fischer stehen, die im Schneegestöber damit beschäftigt waren, ein halbes Dutzend erlegte Robben sowie einen kleinen Wal zu zerteilen. Das Blut der Tiere färbte den Schnee und die Hände der Männer rot.
Hakon schulterte den Beutel mit dem wenigen, das er bei sich hatte, und zog die Fellkappe gegen den schneidenden Wind tief ins Gesicht. Mit einem Krächzen erhob sich der Rabe von seiner Schulter und flog über die Stadt davon. Hakon schaute ihm nach, bis der Vogel jenseits der schneebedeckten Dächer als winziger Punkt aus seinem Sichtfeld verschwand. Vermutlich flog er direkt zum Jarlshof, wohin auch Hakon nun gehen musste, um dort das vorzufinden, was ihm von seiner Familie noch geblieben war.
Er versuchte, sich auf Eirik, seinen kleinen Sohn, zu freuen, aber die Freude wurde überschattet von der Trauer um Thora.
Während er über die Brücke stapfte und seine Stiefel knirschend im frischen Schnee die ersten Abdrücke hinterließen, dachte er an seine Frau, wie er das so häufig in den vergangenen Wochen getan hatte. Vor seinem inneren Auge sah er ihr goldfarbenes Haar und ihre Augen, die so klar waren wie Eis. Er sah ihre helle Haut und ihren schlanken Körper. In Hakons Erinnerung war sie schön wie eine Göttin.
Sie hatten sich gekannt, seit sie Kinder waren. Als Hakon fünf Jahre alt war, hatte ihn sein Vater Sigurd – so wie es Sitte war – auf einen Hof nördlich von Hladir zu einem Mann namens Skadi Skoptisson gebracht. Dort wuchs Hakon als Skadis Ziehsohn auf, und Hakon und Skadis Tochter Thora waren bald unzertrennlich, erst im Spiel, später im Leben. Vor einigen Jahren hatten sie geheiratet und waren zu Hakons Vater Sigurd auf den Jarlshof von Hladir gezogen, wo Thora bald darauf Eirik auf die Welt brachte. Hakon und Thora wollten viele Kinder haben, doch Eirik blieb ihr einziges Kind.
Hakon kam zum Ende der Brücke und dann auf den Weg, der zum Stadttor führte. Auch hier war der Schnee noch unberührt. Nur wenige Menschen gingen im Winter zum Hafen hinunter. Bald würde er vereist sein und die Schifffahrt völlig zum Erliegen kommen. Dann war es endgültig vorbei mit der Fischerei und der Jagd auf Robben, Seehunde, Walrosse und Wale, und es brachen die langen, kalten Zeiten an, in denen die Menschen des Nordens auf ihre Vorräte zurückgreifen mussten.
In der Stadt waren die Wege belebter. Überall waren die Bewohner mit alltäglichen Arbeiten beschäftigt. Sie versorgten in den Vorhöfen ihre Ziegen, Schafe und Rinder mit Heu, häuteten Hasen, räucherten Fische und besserten ihre Häuser aus. Geräusche von Schmiedehämmern und Beilen, mit denen Holz gehackt wurde, drangen an Hakons Ohren, während er durch die Stadt ging.
Einige Jungen rannten den Weg hinunter in seine Richtung. Lachend bewarfen sie sich mit Schnee. Ein mutiger Knabe formte einen Schneeball und schleuderte ihn auf Hakon. Der Schnee zerplatzte an dessen Brust. Brüllend vor Lachen, forderten ihn die Jungen auf mitzuspielen. Doch als er
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