Das Lied des Todes
gerade niederknien, um anhand der Spuren festzustellen, welchen der beiden Wege der Graf genommen hatte, als es plötzlich finster wurde. Eine große Wolke hatte sich vor den Mond geschoben.
Neben sich hörte er es plätschern. Gurgelnd umströmte das Wasser im Bachbett Steine und abgebrochene Äste. Über ihm rauschte der Wind in den Wipfeln, Bäume knarrten.
Der Rabe war nicht zu hören. Ob er schon vorausgeflogen war, um dem Grafen zu folgen?
Ungeduldig wartete Hakon darauf, dass die Wolke den Mond wieder freigab. In der Finsternis würde er keine zehn Schritte weit kommen, ohne sich in dornigen Büschen zu verheddern oder sich im Unterholz zu verlaufen.
Endlich zog die Wolke weiter.
Hakon ging in die Knie, um die Spuren zu untersuchen. Der Graf war dem Pfad weiter am Bach entlang gefolgt.
Er war etwa zweihundert Schritt gegangen, als er das vertraute Krächzen hörte. Sofort ging er hinter einem umgestürzten, mit Moos und Pilzen bewachsenen Baum in Deckung. Aber sosehr er seine Augen auch anstrengte, nirgendwo sah er den Schatten eines Mannes oder eines Pferdes. Nach einer Weile kam er wieder hinter dem Stamm hervor, ging zum Wildpfad zurück und stieß nach wenigen Schritten auf eine mit Bäumen bewachsene Erhebung.
Hier sah er den Raben wieder, der am Fuße des etwa mannshohen Hügels auf einem Stein saß. Hakon schaute sich überrascht um, doch auch hier war vom Grafen weit und breit nichts zu sehen. Warum war der Vogel hier?
Als Hakon näher kam, machte der Rabe keine Anstalten, sich auf seiner Schulter niederzulassen, wie er es für gewöhnlich tat. Vor dem Stein, auf dem der Rabe saß, kniete Hakon nieder. Der Vogel stieß einen leisen, kehligen Laut aus.
Was willst du mir sagen?, dachte Hakon und legte das Schwert ab.
Sein Blick fiel auf den Boden, der rings um den Stein mit lockerer Erde bedeckt war. Da erhob sich der Rabe und flog auf einen Ast in der Nähe. Hakon nahm eine Handvoll Erde und ließ sie durch die Finger rinnen. Sie war so locker, dass sie erst vor kurzem ausgehoben worden sein musste.
Hakon wälzte den Stein zur Seite und sah, dass der Boden darunter aufgewühlt war. Mit beiden Händen begann er zu graben. Er warf die Erde hinter sich und stieß auf abgeschnittene Wurzeln, die von etwas Scharfem, vermutlich einem Messer, durchtrennt worden waren. Bald hatte er so tief gegraben, dass seine Arme bis zu den Ellenbogen im Erdloch verschwanden, und als er eine weitere Handvoll Erde herausholen wollte, stießen seine Finger auf etwas Hartes. Kurz darauf hatte er eine kleine Kiste freigelegt, die er vorsichtig aus dem Loch hob und auf dem Boden abstellte.
Es war eine Schatulle aus Eisen, die mit einem Schloss versehen war. Hakon zog sein Messer, schob die Klinge zwischen Deckel und Schloss, und nach einigen Versuchen gelang es ihm, das Schloss abzureißen und den Deckel zu öffnen.
Was auch immer in der Kiste war – für den Grafen musste es sehr wichtig sein. Sonst hätte er kaum einen so großen Aufwand betrieben, um die Schatulle tief im Wald zu verstecken.
Hakon griff hinein und fühlte etwas Längliches, das zum Schutz vor Feuchtigkeit sorgfältig in gewachsten Stoff eingeschlagen war. Das Herz schlug ihm vor Anspannung bis zum Hals, als er das Tuch auseinanderwickelte. Was für ein Schatz würde wohl darin sein? Als er jedoch feststellte, dass es lediglich ein Stück gegerbte Tierhaut war, die die Sachsen Pergament nannten, war er enttäuscht. Insgeheim hatte er gehofft, in der Schatulle Gold, Silber oder Edelsteine zu finden. Mit den Schätzen hätte er vielleicht seinen Vater besänftigen können, wenn Hakon nach Hladir heimkehrte.
Denn genau das wollte er nun tun. Da es ihm weder beim Überfall im Wald bei Haithabu noch im Hafen oder heute Nacht gelungen war, den Grafen zu töten, nahm er an, dass die Götter die Zeit offenbar noch nicht für gekommen hielten. Und was konnte Hakon gegen den Willen der Götter ausrichten? Nichts! Außerdem würden bald Herbststürme die Schifffahrt in den Norden zum Erliegen bringen. Den Winter in den Wäldern der Mark zu verbringen, erschien Hakon zu gefährlich. Er kannte hier niemanden, der ihm Unterschlupf gewähren würde, und wenn er versuchen würde, auf einem Hof unterzukommen, bestand die Gefahr, dass man ihn an den Grafen verriet.
In Hladir konnte er jedoch neue Kräfte sammeln und dann, wenn die Götter den Zeitpunkt für günstig hielten, hierher zurückkehren, um seine Rache zu vollenden. Denn er war fest entschlossen, den
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