Das Lied des Todes
dich in unsere Angelegenheiten ein?»
Da hörte Aki vom Lager her Geräusche, und als er aufschaute, sah er, dass Velva erwacht war.
«Mutter, dieser Mann hat sich einfach …», sagte er schnell.
«Psst», machte Velva. «Sprich nicht so laut, mein Kopf schmerzt.»
«Aber er ist ein Mönch», flüsterte Aki.
«Das sehe ich», erwiderte Velva, «und ein recht großer noch dazu. Er passt ja kaum in unsere Höhle.»
Tatsächlich reichte der Mönch selbst im Sitzen fast bis an die Decke.
Velva setzte sich zwischen Aki und den Mönch, der sie aus großen Augen anstarrte.
Erleichtert stellte Aki fest, dass seine Mutter nicht mehr so blass war. Sie machte sogar einen geradezu heiteren Eindruck.
«Geht es Euch wieder besser?», fragte der Mönch.
Velva nickte lächelnd.
«Gelobt sei Gott!»
«Gott?», entgegnete sie. «Das habe ich meinen Kindern zu verdanken. Oder hat dein Gott die Kräuter zusammengemischt?»
«Nein, natürlich nicht, das war Eure Tochter.»
Velva betrachtete den Mönch eingehend. «Wie heißt du?», wollte sie wissen.
«Ich heiße Ketil, Sohn des Skalden Kormak», antwortete er.
«Du bist gekleidet wie ein Christ, Ketil Kormakson, aber du trägst kein Kreuz. Hat man es dir abgenommen?»
«Abgenommen? Woher wisst Ihr das?»
«Weißt du nicht, wer ich bin?»
«Doch! Aber … ja, wie konnte ich nur so dumm fragen? Natürlich wisst Ihr das. Ihr seid die Seherin. Die Zauberin! Man sagt, vor Euch bliebe nichts verborgen.»
«So, sagt man das? Nun, die Menschen mögen recht haben. Ich sehe also einen Mönch, dessen Kleider zwar gewaschen sind, an denen aber noch Morast klebt. Ich nehme an, dass der Mönch nicht freiwillig in die Sümpfe geraten ist. Vermutlich ist er vor etwas geflohen. Weil er überfallen wurde? Nein. Er sieht nicht danach aus, als würde er sich überfallen lassen. Es müssten schon ein paar sehr kräftige Männer kommen.»
Velva wandte sich an die Zwillinge. «Würdet ihr mir etwas zu essen bringen? Und danach möchte ich die Geschichte dieses Mannes hören. Wir haben viel Zeit, die ganze Nacht und, wenn es sein muss, noch viele andere Tage und Nächte. Ich nehme nicht an, dass du es eilig hast, Ketil, sonst wärst du längst wieder gegangen.»
«Eigentlich wollte ich auf ein Schiff …»
Velva brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. «Es geht nicht darum, was du willst, Ketil Kormakson. Gyda ist gegangen, und du bist gekommen, weil die Götter es so wollten. Die Götter tun nichts ohne Grund, und der einzige Grund, dass die Schicksalsspinnerinnen deinen Lebensfaden mit unseren verweben, ist, dass der Mensch Ketil wichtig für uns ist.»
So ist das also, dachte Aki überrascht. Aber wie sollte so einer wichtig für sie sein? Die Christen hassten alle Menschen, die an die alten Götter glaubten, und besonders hassten sie Velva, die mit den Göttern sprach.
Inzwischen hatte Aki die Holzschale geholt, in der er den gebratenen Hasen aufbewahrt hatte. Er freute sich, dass seine Mutter wieder Hunger hatte. Sie schien wie ausgewechselt zu sein. So aufgeschlossen und redselig hatte er sie lange nicht mehr erlebt. Er wunderte sich zwar, warum sie nicht mehr trauerte. Aber dann überlegte er, dass sie wahrscheinlich schon vor längerer Zeit von Gyda Abschied genommen hatte und dass sie glücklich war, weil es Gyda nun bei den Göttern viel besser ging.
Velva griff beherzt nach dem Hasen. Sie bot den anderen davon an, doch sie lehnten dankend ab, obwohl sie selbst Hunger hatten. Aber sie wollten, dass sich Velva stärkte. Nachdem die Seherin das Fleisch aufgegessen und die letzten Fasern von den Knochen genagt hatte, lobte sie Aki für seinen Jagderfolg und wandte sich dann an den Mönch.
«Erzähl uns deine Geschichte und lass nichts aus», forderte sie ihn auf. «Wir wollen dich kennenlernen, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Außerdem wird uns die Abwechslung guttun.»
Das ließ sich Ketil nicht zweimal sagen. Er streckte die Beine neben dem Feuer aus und begann.
Je länger Aki ihm zuhörte, desto mehr verlor er seine Scheu. Das ging offenbar auch Asny so. Sie war ebenfalls sichtlich angetan von Ketils Leben, das so abenteuerlich verlaufen war, wie es sonst nur den Männern in den Geschichten widerfuhr, die die Alten an den Lagerfeuern erzählten.
Vor achtundzwanzig Jahren wurde Ketil auf Island, einer Insel im Nordmeer, geboren. Sein Vater war ein berühmter Skalde, der Dutzende Verse gedichtet hatte. Das konnte Velva sogar bestätigen. Auch
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