Das Lied des Todes
hatte sie ihm angelegt, damit er nicht floh, wenn die Schmerzen am schlimmsten wurden. Die Schnüre und die Pflöcke hielten … noch hielten sie.
Fahr hin zur Hel, von Hunden zerfleischt. Deine Seele versinke in Qualen
, brüllte die tätowierte Fratze der Seherin.
«Jetzt das Messer!», schrie Thankmar.
«Haltet still», bat Poppo.
Thankmar musste all seine Kräfte aufbieten, um ruhig zu bleiben, während die Schmerzen durch seinen Körper wogten wie die Wellen einer sturmgepeitschten Brandung.
Da beugte sich der Bischof mit dem Messer über ihn, suchte auf dem Oberkörper nach einer freien Stelle und setzte die Klinge auf die Haut. Brust und Bauch waren von verschorften und vernarbten Wundmalen vergangener Rituale übersät.
In einem Zug ritzte Poppo mit der Klingenspitze einen handlangen Schnitt in Thankmars Fleisch.
Als das Blut aus der Wunde quoll, sprang der Bischof auf, warf das Messer fort, nahm stattdessen sein Kruzifix zur Hand und hielt es über den Grafen.
«Ich beschwöre dich, Schlange», rief Poppo, «bei dem Richter über Leben und Tod, bei deinem Schöpfer, der die Macht besitzt, dich in die Hölle zu schicken. Weiche! Weiche im Namen des unbefleckten Lammes. Fliehe von diesem Menschen, denn Christus wird in ihm wohnen!»
Von grauenvollen Schmerzen geschüttelt, hob Thankmar den Kopf, starrte auf die klaffende Wunde – aber kein Dämon drang daraus hervor. Nur Blut. Immer mehr Blut.
Erschöpft sank er zurück. Die Stimmen in seinem Kopf verhallten, und seine Augen füllten sich mit Tränen.
«Es hat … wieder nicht funktioniert», brachte er keuchend hervor.
«Nein», erwiderte Poppo. «Es tut mir leid.»
Dann band er den Grafen von den Pflöcken los.
21.
Am Abend war der Mönch noch immer bei ihnen, und das gefiel Aki überhaupt nicht.
Ohne sich von den Zwillingen davon abhalten zu lassen, hatte er Velva in die Höhle gebracht. Es war drinnen zwar recht eng für den riesigen Mann, aber dennoch hatte er auf rührende Weise dabei geholfen, Velva zu versorgen. Er hatte sie auf das Lager gebettet, hatte sie gehalten, damit die Zwillinge ihre verdreckte und verschwitzte Tunika gegen eine andere austauschen konnten, und ihr dann mit feuchten Tüchern die Stirn gekühlt.
Trotzdem mochte Aki den Mann nicht, obwohl er nicht sagen konnte, was der Grund dafür war.
Am Nachmittag war Velva einmal kurz aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht, woraufhin Asny ihr einen aus Bilsenkraut und getrockneten Pilzen gemischten Trank gab. Seither schlief sie.
Mit Einbruch der Dunkelheit entzündete Aki das Feuer. Der Mönch, der zuvor Armladungen voller Holz herbeigeschleppt hatte, setzte sich den Zwillingen gegenüber ans Feuer. Die flackernden Schatten der Flammen ließen sein Gesicht noch unheimlicher wirken.
Nach einer Weile wandte Aki den Blick ab und schaute ins Feuer. Als er so still dasaß und dem Flammenspiel zuschaute, wich allmählich die Anspannung, die ihn seit dem Morgen im Griff gehabt hatte. Und erst jetzt, da es Velva besser zu gehen schien, konnte er wieder an Gyda denken.
Wie gern hätte er sich einmal richtig mit ihr unterhalten, wenigstens ein einziges Mal. Was hätte er nicht alles dafür gegeben zu erfahren, was sie dachte und fühlte, wie sie die Welt um sich herum wahrnahm. Es zerriss Aki das Herz, je mehr ihm bewusst wurde, dass diese Gelegenheit endgültig vertan war, zumindest so lange, bis sie sich im Reich der Toten wiedersehen würden. Er stellte sich auch die Frage, ob er nicht mehr für seine kleine Schwester hätte tun können. Natürlich war er immer zärtlich zu ihr gewesen. Er hatte sie gestreichelt, sie gefüttert, sie sauber gemacht, ihr von seinen Erlebnissen erzählt, ohne zu wissen, ob sie ihn überhaupt verstand. Aber hatte er sich wirklich ausreichend um sie gekümmert? Er – der einzige Mann der Familie.
Einen Vater hatte es ja niemals gegeben. Natürlich hatte Aki seine Mutter nach Gydas Vater gefragt, ebenso, wie er wissen wollte, wer sein und Asnys Vater war. Aber Velva hatte immer behauptet, die Götter seien ihre Väter. Einen Erzeuger aus Fleisch und Blut gebe es nicht. Mehr sei dazu nicht zu sagen.
«Die Kleine, die ihr zu Grabe getragen habt, war sie eure Schwester?», fragte der Mönch und riss Aki aus seinen Gedanken.
Die Zwillinge nickten.
«Sie war bestimmt ein wundervolles Mädchen», fuhr er fort. «Es tut mir sehr leid für euch.»
«So, tut es das?», entgegnete Aki spitz. «Du kanntest Gyda doch überhaupt nicht. Warum mischst du
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