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Das Lied des Todes

Das Lied des Todes

Titel: Das Lied des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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auch, Zwielicht und Abend, die Zeit zu messen …»
    Nach einer Weile stimmten auch Aki und Asny mit ein, und so sangen sie gemeinsam das Lied von den Asen und Zwergen, von Odin und Thor, von Untergang und neuer Hoffnung.
    Ihre Worte schwebten durch den Wald wie Botschaften an die Götter, und als die letzte Strophe verklungen war, schien es, als seien die Vögel vor Ehrfurcht verstummt. Kein Geräusch drang mehr an die Ohren der Trauernden, die von einer tiefen Stille umgeben wurden. Dann, nach einem Moment der Andacht, begannen sie eine weitere Fläche freizulegen, aus der sie mit den Händen Erde gruben, die sie nach und nach über Gyda aufhäuften, bis sie unter einem Erdhügel verschwunden war.
    Inzwischen hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht.
    Velva stand der Schweiß auf der Stirn. Sie wischte ihre Hände am Gras ab und kündigte an, zur Höhle zurückzugehen.
    «Bleibt ruhig noch hier», sagte sie zu den Zwillingen. «Meine Beine sind schwach. Ich werde mich hinlegen, jetzt kann ich endlich wieder schlafen. Gyda hat ihren Frieden gefunden.»
    Dann drehte sie sich um und ging über die Lichtung davon.
    Aki stellte sich neben Asny und legte ihr sanft einen Arm um die Schultern.
    «Werden wir auch bald sterben?», fragte sie.
    Aki wollte etwas Ermutigendes sagen, aber seine Kehle war noch immer wie zugeschnürt.
    Da hörte er plötzlich hinter sich Geräusche, die klangen, als würde ein großes Tier durchs Unterholz brechen. Er drehte sich um – und als er sah, was auf der Lichtung geschah, öffneten sich seine Lippen zu einem lautlosen Schrei.
    Velva war etwa auf halbem Wege zur Höhle stehen geblieben. Sie wankte hin und her, taumelte und drehte sich im Kreis, als würde sie tanzen. Mitten in dieser Bewegung verlor sie das Bewusstsein und stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden.
    Aber die Geräusche, die Aki gehört hatte, kamen nicht von seiner Mutter. Sie stammten von einem riesenhaften, glatzköpfigen Mann, der zwischen den Bäumen hindurchjagte, auf die Lichtung sprang und auf Velva zulief. Der Mann war wie ein Mönch gekleidet. Aber was für ein Mönch war das? Niemals zuvor hatte Aki einen so großen Mann gesehen.
    Asny stieß einen spitzen Schrei aus.
    Aki zog sein Messer aus dem Gürtel und rannte los. Doch der Mönch war schneller. Bevor Aki seiner Mutter zu Hilfe eilen konnte, streckte der Glatzkopf seine Pranken nach ihr aus.
    Als Aki gegen den riesigen Körper sprang, war es, als wäre er gegen eine Felswand geprallt. Mit einer beiläufigen Armbewegung schüttelte ihn der Mönch ab wie ein lästiges Insekt und beugte sich wieder über Velva.
    Aki fand sich im Gras wieder. Verzweifelt suchte er sein Messer, das ihm aus der Hand gefallen war.
    Inzwischen war auch Asny herbeigeeilt. In den Händen hielt sie einen armdicken Ast, den sie dem Mönch von hinten auf den Rücken schlug. Der Ast zerbrach mit einem lauten Knacken, ohne dass der Mönch den Hieb überhaupt zu bemerken schien.
    Unbeirrt nahm er die bewusstlose Velva auf. In seinen Armen wirkte sie zart wie ein Kind.
    Aki entdeckte das Messer zwischen den Gräsern und machte sich für den nächsten Angriff bereit.
    Als der Mönch die Klinge sah, legte sich seine hohe Stirn in Falten. Der Mann sah wirklich eigenartig aus, so gar nicht wie einer der Mönche, die Aki aus Haithabu kannte. Alles an ihm wirkte um ein Vielfaches ausgeprägter und wuchtiger als bei anderen Männern. Seine Lippen waren prall und wulstig, seine breite Nase war krumm und schief, als wäre sie mehrfach gebrochen worden. Auf dem Kinn wucherte der Bart wie Unkraut, und unter einem Gestrüpp buschiger Augenbrauen blitzten dunkle Augen auf.
    Aber – wie Aki irritiert feststellte – in dem Blick lag keine Feindseligkeit.
    «Lass sie los!», brüllte er, als er seine Sprache wiedergefunden hatte. «Lass sie los! Verschwinde!»
    Doch der Mann blieb einfach stehen. Sein Blick glitt von Aki zu Asny, dann wieder zu Aki.
    «Das werde ich nicht tun, junger Mann!», sagte der Mönch mit einer rauen, tiefen Stimme.
    Aki, der das Messer noch immer auf den Riesen richtete, war überrascht, dass er ihre Sprache ohne Akzent beherrschte.
    «Lass sie los!», wiederholte er und hob drohend die Klinge.
    «Die Seherin braucht Hilfe», entgegnete der Mönch.
    Aki erstarrte. Woher wusste der Mönch, wer Velva war? Und was bedeutete es, dass er es wusste?
    In diesem Moment fand Aki nur eine Antwort auf diese Fragen: Der Mönch gehörte zum Grafen – und er war gekommen, um Velva

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