Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
wäre. Sie öffnete das Fenster, das zum Hof hinausging. Glockengeläut rief zum Abendgebet, und sie starrte auf den Boden, der die Spuren vieler Jahre trug. Neben ihr auf dem Bett lag sauber gefaltet die Tracht, die sie ab dem kommenden Morgen anzulegen hatte.
In den folgenden Wochen lernte Anna vor allem den streng reglementierten Ablauf des Klosters kennen. Zurückgezogen vom Lärm, den Zerstreuungen und den Ablenkungen der Welt, begannen die Dominikanerinnen den Tag mit einem Gebet, auf das weitere Momente der Kontemplation folgten. Inzwischen wusste sie, dass dieses Wort ein noch tieferes Versenken ins Gebet bedeutete. Überhaupt schienen die Ordensfrauen fast den ganzen Tag in der Zwiesprache mit Gott zu verbringen, nur unterbrochen von der Feier der heiligen Eucharistie und den Mahlzeiten, die sie schweigend einnahmen. Zwischen den stündlichen Gebeten ging jede der Schwestern einer Arbeit nach. Den Abend beschlossen sie mit der Salve-Regina-Prozession, der Anrufung der Gottesmutter.
Den Kopf gesenkt, kniete Anna zwischen den anderen Klosterschülerinnen. Der Steinboden war empfindlich kalt, und der grobe Stoff ihrer Tracht scheuerte auf der Haut. Ihre Gedanken schweiften zu dem Grauen, dem Verlust und der Hilflosigkeit der letzten Wochen. Immer wenn sie übermächtig in ihr wurden, beschwor sie den letzten Abend mit Martin herauf. Dann war es ihr, als könnte sie noch seine festen Arme spüren, die sie gehalten hatten. Seine Lippen waren warm und voller Verheißung gewesen, die Liebkosungen wie ein verzweifeltes Versprechen, einander nie zu verlieren. Anna wäre beinahe ein tiefer Seufzer entwichen.
Das junge Mädchen neben ihr, Rosalind hieß es, stieß sie in die Seite, damit sie sich erhob. Anna warf ihr einen dankbaren Blick zu, niemand schien etwas von ihrer Zerstreutheit bemerkt zu haben. Als die Andacht dem Ende zuging, wollte sie sich unter die Nonnen mischen.
Da hielt sie jemand am Ärmel fest. Anna schaute geradewegs in die klaren Augen von Schwester Griseldis.
» Komm bitte mit in meine Kammer. Wir wollen uns unterhalten. «
Was konnte Schwester Griseldis von ihr wollen? Sie spürte die Blicke der anderen Klosterschülerinnen im Rücken, als sie den Weg zu den Privatkammern der Ordensschwestern einschlugen. Das Geräusch ihrer Schritte hallte in dem spärlich erleuchteten Flur wider. Wenig später nahm sie den ihr zugewiesenen Platz auf einem einfachen Holzstuhl ein.
» Du bist nun seit einigen Wochen bei uns und hast dich inzwischen mit unseren Gepflogenheiten vertraut gemacht « , eröffnete die junge Ordensfrau das Gespräch.
» Ja, Schwester Griseldis « , antwortete Anna lahm.
» Mir scheint, du suchst hier keine Freundschaften? « Die blauen, sanften Augen ließen die ihren nicht los. » In Zeiten wie diesen, in denen die Pestilenz uns fest in der Gewalt hält, in denen Mutter und Kind getrennt werden und das eigene Heim nicht mehr sicher ist, in denen der Leibhaftige seinen Zorn über uns wirft und uns vor Angst nicht mehr schlafen lässt – da brauchen wir eine liebevolle Gemeinschaft, um uns gegenseitig trösten zu können. « Ihre Tracht raschelte, als sie auf Anna zutrat. In Griseldis’ Augen glitzerten Tränen.
» Du bist nicht die Einzige, die trauert, Anna. Sieh dich um, Tausende sind der Seuche zum Opfer gefallen! Nürnberg ist zu einer Stadt der Leidenden geworden. «
» Habt auch Ihr einen lieben Menschen verloren? « , fragte sie stockend.
» Ja, gleich drei. Meine Schwester mit ihren beiden kleinen Kindern. Sie war noch so jung und … « Die Lippen der Älteren bebten. » Suche deine Erfüllung in der Hinwendung zu Gott. Du kannst dich ihm anvertrauen und wirst Trost im Gebet finden. « Ein leises Lächeln umspielte ihren Mund. » Unser Kloster ist ein Ort der Sicherheit und des Friedens. Hier wirst du finden, was du suchst. « Stolz schwang in ihrer Stimme mit, als sie weitersprach. » Bischof Siegfried von Regensburg hat uns Dominikanerinnen vor fast dreihundert Jahren aufgetragen, Hüterinnen der Stadt im Westen zu sein. Wir sind eine Gebetswacht, die den Segen des Herrn auf die Stadt und die Kirche herabfleht. In Zeiten wie diesen hat sie es besonders nötig. Und nun geh, mein Kind. «
Mit steifen Gliedern dankte Anna der Nonne und trat hinaus. In ihrer Kammer angekommen, setzte sie sich auf ihr Bett, zog die Beine an und bettete den Kopf auf die Knie. Sie mochte Schwester Griseldis’ Sanftmut und Geduld. Aber sie wollte keine Freundin, schon gar nicht dieses
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