Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
nach ihm aus. Bis auch dieses Bild verblasste und der Schlaf ihm endlich Vergessen schenkte.
KAPITEL 8
S ebastian erwachte vom Läuten der Glocken, das über die Stadtmauer an sein Ohr drang. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Im Osten wurde es bereits hell. In der Nacht war er einmal vom Schnarchen der Männer wach geworden, die – in Mänteln und Decken vor der kalten Nachtluft geschützt – um das längst erloschene Feuer lagen. Nun streckte er die steifen Glieder und setzte sich auf, während auch die anderen nach und nach erwachten.
» Hast du Hunger? « , sprach ihn einer der Männer an. Er mochte nur wenige Lenze älter als Anna sein. Eine dünne Narbe zog sich vom Kinn bis unter das linke Auge, außerdem fehlte ihm der rechte Arm. » Da, nimm. « In seiner ausgestreckten Linken hielt er einen Kanten graues Brot. Sebastian griff danach, warf aber zunächst einen vorsichtigen Blick darauf und suchte es nach Mäusebissen ab.
» Ich bin Caspar « , stellte der Einarmige sich vor und ließ sich neben ihm nieder. » Und wer bist du? «
» Stäubling, Sebastian « , antwortete er kauend. Das Brot schmeckte herrlich, wenn auch etwas trocken.
» Was hast du nun vor, Stäubling? « , wollte der andere wissen, nachdem Sebastian ihm zögernd und in knappen Worten erzählt hatte, warum er die Nacht außerhalb der Stadtmauern im Freien verbracht hatte.
Er zuckte die Achseln. » Keine Ahnung. Zu meinem Onkel gehe ich jedenfalls nicht zurück, und zu dem ungerechten Beinschnitzer schon gar nicht. «
» Ich wüsste da was für dich. « Der andere hob die Hand und kratzte sich am Kinn. » Was hältst du davon, dich mir anzuschließen? «
» Anschließen? Was meinst du damit? Ich dachte, ihr seid alles Bettler und … «
» … Diebe? « Im Licht der aufgehenden Sonne sah er den Einarmigen grinsen. » So nennen uns die Leute, wenn sie uns erwischen und an den Galgen hängen. Was ihnen bei mir bisher nicht gelungen ist, wie du siehst. Den Arm habe ich bei einer anderen Gelegenheit verloren. Nein, Sebastian, ich nehme nur denjenigen etwas weg, die sowieso zu viel haben. Einen Armen oder einen Bauern würde ich nie bestehlen, das kannst du mir glauben. «
Ihm fiel auf, dass Caspar sich gewählter ausdrückte als die anderen Männer. » Bist du immer ein … ein Dieb gewesen? «
Der andere lachte. » Ich komme aus einem guten Stall. Mit vierzehn brachte mein Vater mich in ein Mönchskloster bei Augsburg. « Er spuckte auf den Boden. » Fünf Jahre habe ich dort zugebracht, bis ich eines Tages geflohen bin. Ich hab es einfach nicht mehr ausgehalten. Siebenmal am Tag zur Messe und dazwischen nichts als Feldarbeit. Ora et labora, bete und arbeite. Obendrein war da noch ein älterer Bruder, der mich manchmal, wenn wir unbeobachtet waren … du verstehst? «
Sebastian schüttelte den Kopf.
» Er hat versucht mich zu küssen und mir an den Hintern gefasst! Hat behauptet, er würde mich lieben. Als sich die Gelegenheit bot, bin ich davongelaufen. «
Sebastian schwieg entsetzt. Ob die Frauen in dem Regensburger Kloster Heilig-Kreuz unter ähnlich harten Bedingungen leben mussten wie die Mönche? Einen Moment lang schloss er die Augen und versuchte der Furcht Herr zu werden, die sich in ihm ausbreitete.
» Was ist nun mit uns beiden? « , unterbrach Caspar seine Gedanken und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. » Ich lenke die Leute ab, und du schneidest ihnen die Geldkatze vom Gürtel. Die Beute teilen wir unter uns auf. Ist gar nicht so schwer, wirst schon sehen. Machst du mit? «
Sebastian zögerte. Das kleine Stück Brot war nicht genug gewesen, um seinen Magen zu füllen. Warum eigentlich nicht? Wenn er nicht hungern wollte, musste er sich etwas einfallen lassen. Doch war das nicht Sünde? In der Hölle würde er schmoren, wenn er sich dazu hinreißen ließe! Sein Blick wanderte über die zerlumpten Gestalten der anderen Bettler, die eng beieinandersaßen und sich unterhielten. Einer sah ihn an und entblößte ein überraschend vollständiges Gebiss. Sie schienen sich gut zu kennen, hielten zusammen. Caspars Argumente waren nicht von der Hand zu weisen. Die reichen Patrizier in ihren feinen Häusern zwischen Weinmarkt und Sebalduskirche, dort, wo die Juden bis zu ihrer Vertreibung gewohnt hatten, lebten tatsächlich in Saus und Braus. Ein paar fehlende Kreuzer würden niemandem schaden. Außerdem wollte er ja nur so viel, um sich etwas zu essen und eine Decke für die Nacht kaufen zu können.
Er sah sein
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