Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
betrunken heimkehren und den Streit vom Vormittag wieder aufnehmen. Nicht zum ersten Mal begleiteten ihn wirre Träume. Mitten in der Nacht wurde er von einem Poltern aus dem Schlaf geschreckt. War der Meister gestolpert? Kurz darauf wurde es still, und Sebastian schlief ein.
Er erwachte vom ersten Gesang der Vögel und setzte sich im Bett auf. Meister Stöckl schnarchte zum Steinerweichen. Nachdem er sich gewaschen und angezogen hatte, horchte er auf die Geräusche im Haus. Sein Magen knurrte. Leise trat er in den Flur und horchte an Stöckls Tür. Er schien noch zu schlafen, deshalb schlich Sebastian in die Küche, um sich sein Frühstück zuzubereiten. Eine Weile später stutzte er. Das Schnarchen in der Kammer gegenüber hatte schlagartig aufgehört. Er setzte den Becher ab. Mit angehaltenem Atem horchte er in die plötzliche Stille. Nichts.
Sebastian stand auf und verließ die Küche. Er trat an die Schlafkammer, aus der immer noch kein Laut drang. Totenstill, dachte er, und ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm auf. Zaghaft drückte er die Klinke herunter, öffnete die Eichenholztür und betrat den Raum. Die stickige Luft und der Gestank von Bier und Schweiß nahmen ihm den Atem. Stöckl lag in Wams und Hosen auf dem Bett, an den Füßen noch die Stiefel, die er vergangenen Abend angezogen hatte. Sebastian trat näher, hielt sich die Hand vor den Mund und beugte sich über den Meister. Er starrte auf den halb geöffneten Mund mit den gelben Zähnen. Im nächsten Augenblick sog Stöckl mit einem lauten Geräusch die Luft ein und riss die Augen auf.
» Was willst du hier? «
Sebastian wich zurück. » Gott sei’s gedankt, Meister! Ihr lebt! «
» Natürlich lebe ich! Was hast du in meiner Kammer zu suchen? «
» Ich dachte, Ihr wärt … «
Stöckl fuhr hoch. » Was dachtest du, Bürschchen? Ich würde so fest schlafen, dass du dich in meiner Kammer umsehen und einen Blick in die Schränke werfen kannst? «
Sebastian hob die Hände. » Das würde ich niemals tun, Herr! «
Der Beinschnitzer richtete sich halb auf und rülpste. Sein Blick wurde hart. » Ach ja? Und was ist mit meinem Werkzeug? Mit den Pfennigen, die du mir aus dem Wams gestohlen hast? «
» Welche Pfennige, Meister? «
» Tu doch nicht so, verdammter Bengel! Die Pfennige, die du mir neulich in der Schänke abgenommen hast! Ich hab eine Menge Geduld mit dir gehabt! Nur wegen Gerald hab ich dich aufgenommen! Dabei hab ich gleich gemerkt, du taugst nicht mehr als zum Bodenschrubben! «
» Aber Meister … Hört mich an, bitte. Ich … « Sebastian machte einen Schritt auf Stöckl zu, brach ab, unfähig, auch nur einen weiteren Ton herauszubringen.
» Nein, es ist genug! Ich trau dir nicht länger. Und jetzt raus hier. Ich will dich nicht mehr sehen! Pack deine Sachen und geh zurück zu Pfanner. «
Wie betäubt zog Sebastian die Tür hinter sich zu. Am ganzen Körper bebend ging er in die Küche zurück. Er trat an das kleine Fenster und sah hinaus auf die Schustergasse. Die Glocken der Sebalduskirche riefen zum Gottesdienst. Ich habe gleich gemerkt, du taugst nicht mehr als zum Bodenschrubben!, dröhnte es in ihm.
Zu Gerald Pfanner zurückkehren? Niemals. Sebastian biss die Zähne zusammen, bis es schmerzte. Eher wollte er sich allein durchschlagen, als wieder unter einem Dach mit diesem unfreundlichen Mann zu leben, der kein gutes Haar an ihm gelassen und ihn und Anna weggegeben hatte. Nun widerfuhr ihm dasselbe. Für den Meister war er gar ein niederträchtiger Dieb. Wahrscheinlich hatte Stöckl die Pfennige während einer durchzechten Nacht selbst verloren und konnte sich nur nicht mehr daran erinnern. Doch was nützte ihm das, wenn der Meister ihm nicht glaubte? Mit Gliedern, schwer wie Blei, erhob er sich und stieg die Treppe hinauf in seine kleine Kammer. Vielleicht konnte er irgendwo Arbeit finden. Wenn nicht in Nürnberg, dann eben anderswo. Eilig raffte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen, schnürte sein Bündel und verließ das Haus.
Im Laufe der nächsten Stunden streifte Sebastian durch die Gassen rund um den Salzmarkt und beobachtete die Kirchgänger, die von der Messe in St. Sebald nach Hause gingen. In seinem Magen rumorte es. Sein Frühstück war dürftig gewesen.
Gegen Abend hielt er es vor Hunger kaum noch aus, und sein Mund fühlte sich an wie ein trockener Schwamm. Außerdem hatte es zu regnen begonnen, und die einsetzende Abendkühle ließ den Jungen frösteln. Schon brannten in den Häusern Kerzen, die ihr
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