Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
vergangenen Nacht wach gelegen, zu übermächtig war die Flut von Gefühlen über sie hereingebrochen. Die Freude über den Umhang und der täglich zunehmende Zorn auf Martins Gleichgültigkeit kämpften miteinander wie zwei Krähen um Beute. Längst hatte sie aufgegeben, die Wochen und Monate seit ihrer Ankunft in Regensburg zu zählen, denn es bewirkte nichts als wachsende Ungeduld. Nachdenklich kämmte sie ihr dichtes dunkelblondes Haar und flocht es zu einem Zopf. Ihre Gedanken wanderten von Martin zu Sebastian. Wenn sie erst wieder vereint waren, würde sie endlich erfahren, was ihr Bruder während ihrer Abwesenheit beim Beinschnitzer alles gelernt hatte. Ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Sie schlüpfte in ihr Novizinnengewand und befestigte die Haube in ihrem Haar.
Als sie den Dienst in der Küche antrat und Schwester Clementia sie fröhlich begrüßte, kam sie sich schlecht und hinterhältig vor. Immerhin würde bald jemand sein Kleidungsstück vermissen, und sei es noch so schäbig und verschmutzt. Sie konnte nur hoffen, dass der Diebstahl erst auffiel, wenn sie das Kloster längst verlassen hatte.
» Anna, du bist schon wieder unaufmerksam! Du hast mir nicht zugehört! «
Schwester Almuths harscher Tonfall ließ sie jäh zusammenfahren, und das Messer, mit dem sie Gemüse schnitt, fiel mit hellem Klang zu Boden. Rasch hob sie es auf.
» Bitte entschuldigt. Ihr habt mit mir gesprochen? «
Die Schwester verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie finster. » Allerdings. Du solltest wissen, dass ich derlei Träumereien in meiner Küche nicht dulde. Geh und hole uns ein Fass Bier zum Abendmahl, aber plötzlich! «
Anna machte auf dem Absatz kehrt und lief hinaus auf den Hof. Als sie kurze Zeit später mit dem Gewünschten zurückkehrte, hörte sie die beiden Ordensfrauen miteinander sprechen.
» So habt doch ein wenig Geduld mit dem Mädchen. Sie ist bemüht und fleißig und benötigt eine liebevolle Hand « , redete Clementia beschwichtigend auf Schwester Almuth ein.
» Acht gut auf sie, hörst du? « , entgegnete diese. » Sollten mir weitere Unaufmerksamkeiten zu Ohren kommen, muss ich mich an die Mutter Oberin wenden, hast du verstanden? «
» Selbstverständlich « , vernahm sie Clementias Antwort.
Anna betrat die Küche, woraufhin das Gespräch sofort verstummte, und machte sich wieder an die Arbeit. Sie wagte nicht aufzusehen. Den Rest des Vormittags redete sie nur, wenn sie gefragt wurde. Sie ahnte, dass sie es Clementia zu verdanken hatte, als ihr keine weitere Strafe auferlegt wurde. In einem passenden Moment dankte sie der alten Frau.
» Schon gut. Es braucht nicht viel, um Almuth in Rage zu bringen, das wirst du selbst wissen. Sei in Zukunft einfach vorsichtiger. «
Anna versprach es. In ihrer freien Stunde stattete sie dem Stallburschen einen Besuch ab. » Na, kommt Ihr voran? «
» Muss ja « , antwortete er, » am Sonntagabend sollen die Fässer verladen werden. «
In zwei Tagen. Annas Puls beschleunigte sich. » So früh schon? «
» Ja « , brummte er, » leider. Macht es Euch etwas aus, an einem anderen Tag wiederzukommen? «
» Ganz und gar nicht « , antwortete sie und wandte sich zum Gehen. Sie drehte sich noch einmal um. » Hat man denn einen Händler gefunden, der auch am Sonntag reist? «
Der Stallbursche kratzte sich am Nacken. » Wieso? Ach, jetzt verstehe ich. Ihr meint, weil am Sonntag verladen wird? So jemanden werdet Ihr kaum auftreiben, Mädchen « , lachte Rüdiger vergnügt. » Nein, der Weinhändler wird bei uns zu Gast sein und schon zum Sonntag erwartet. Er übernachtet im Kloster und tritt am Montagmorgen gemeinsam mit der Schwester, die unsere Brauerei leitet, die Handelsreise an. So kommt der gute Baldewin zu seinem Bier, und die Schwester fährt in Begleitung. «
Jedes seiner Worte hallte wie die Klänge einer Melodie in Anna nach. Übernachtet im Kloster, Sonntagabend verladen, am Montagmorgen gemeinsam … Erregung ergriff sie.
Vorsichtig blickte sie sich nach allen Seiten um. » Im Hof ist gerade niemand zu sehen. Vielleicht bis morgen. Gutes Gelingen! «
» Danke « , antwortete er und schob seinen gewaltigen Leib unter den Wagen.
Zurück in der Kammer, warf Anna sich ungeachtet ihrer staubigen Stiefel aufs Bett. Ihr Herz hämmerte laut und voll ängstlicher Erwartung. Ihr Wassersack musste gefüllt werden. Außerdem fehlte noch eine Decke. Natürlich könnte sie versuchen, die Pferdedecke aus Rüdigers Kiste zu stibitzen,
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