Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
Wieder wurden Annas Augen feucht. Ob sie dem Kind die Eltern würde ersetzen können? Sie würde es müssen, denn die Kleine ins Findelhaus zu bringen, brachte sie nicht übers Herz. Gewiss, den Waisenmädchen, die in dem Haus in der Weißgerbergasse aufwuchsen, fehlte es an nichts, auch wenn sie dafür in der Küche und im Stall arbeiten mussten. Die älteren von ihnen erhielten sogar Schulunterricht. Und dennoch. Es schüttelte Anna, wenn sie daran dachte, dass zuweilen Neugeborene auf dem flachen Stein neben dem Portal des Hauses abgelegt wurden, das sich im Viertel der Gerber und Lederer nördlich der Pegnitz befand. Anna hatte diese Gegend immer gemieden, in der es nach den Säuren und Bleichmitteln stank, mit denen die Handwerker die Tierhäute behandelten. » Stinkende Häut’ machen reiche Leut’ « , hieß es in der Stadt. Tatsächlich gehörten die prächtigen Häuser dort einigen der gut betuchten Nürnberger.
Lenchen hatte den Daumen in ihrem Mund versenkt und nuckelte heftig. Anna unterdrückte ein Schluchzen, das ihr die Kehle hochzusteigen drohte. Den Blick auf den Altar gerichtet, faltete sie die Hände und bat um innere Stärke, damit sie im Strudel der Ereignisse ausreichend Halt finden möge, um für Magdalena sorgen zu können. Der Geruch von Weihrauch drang ihr in die Nase, und sie schloss die Augen.
Da hörte sie Schritte, und die bekannte Gestalt Andreas Osianders trat durch eine der Seitentüren. Rasch trocknete sie sich das Gesicht, während der Pfarrer langsam den Gang hinunter auf den Eingang zuschritt.
» Gott zum Gruße, Herr Pfarrer. «
Osiander hatte sie inzwischen ebenfalls entdeckt. Sein Blick wanderte kurz zu Magdalena, um sich dann erneut auf Anna zu richten. » Gott zum Gruße. Ihr gehört nicht zu meiner Gemeinde, nicht wahr? «
» Nein, ich besuche gewöhnlich die Messe in St. Sebald « , antwortete sie leise.
Der Pfarrer musterte sie. » Sind wir uns nicht schon mal begegnet? Damals habt Ihr mich nach einem jungen Mann gefragt, wenn ich mich recht erinnere. « Anna schwieg, aber der Pfarrer sprach weiter. » Wie ist es Euch seitdem ergangen? «
» Herr Pfarrer « , ihre Stimme bebte, » ich bin Euch noch etwas schuldig. « Aus einer kleinen Tasche ihres Umhanges holte sie eine Münze hervor und reichte sie ihm. » Ich habe nicht vergessen, was Ihr damals für mich getan habt. «
Ein Lächeln umspielte Osianders Lippen, als er die Münze entgegennahm und ihr dankte. » Ihr seid inzwischen die Frau des Buchmalers Dietl aus der Waaggasse, oder? « Er trat ein wenig näher. » Nachdem Euch Korbinian Dietl zur Frau genommen hatte, erzählte mir mein Freund Albrecht Dürer davon, als ich eines Abends in seinem Haus zu Gast sein durfte. «
Bei der Erwähnung von Korbinians Namen zuckte erneut ein Schmerz durch Annas Inneres. In diesem Moment wurde ihr wieder deutlich bewusst, dass sie ihn nie wiedersehen, mit ihm reden und scherzen würde. Mühsam blinzelte sie die Tränen fort.
» Ihr kennt Herrn Dürer? « , erwiderte sie atemlos.
» Selbstverständlich. Wir denken in vielem gleich, besonders, was die neue Lehre des Doktors aus Wittenberg angeht. Albrecht, Lazarus Spengler und ich sind froh, dass sich Martin Luther bester Gesundheit erfreut und die Reformation immer mehr Städte im ganzen Reich erfasst. Nicht überall ist man Luthers Gedanken gegenüber so aufgeschlossen wie in Nürnberg « , erläuterte der Pfarrer. » Aber glaubt mir, die Feder ist mächtiger als das Schwert, und das geschriebene Wort besitzt mehr Kraft als alle, die es bekämpfen. « Osiander zupfte sich an seinem dunklen Bart. » Wie geht es Eurem Gemahl? «
Sie wandte sich ab.
» Aber was ist denn, Frau Dietl? « , wollte der Gottesmann wissen und legte Anna die Hand auf die bebende Schulter.
» Korbinian ist … « Anna versagte die Stimme. Sie strich der Kleinen über den Rücken, denn das Kind wurde allmählich unruhig.
» So sprecht doch weiter. «
» Gerade heute hat man mir mitgeteilt, dass zwei Männer ihn tot aufgefunden haben « , brach es aus ihr heraus.
» Tot aufgefunden? Um Himmels willen, was ist denn passiert, Frau Dietl? «
» Korbinian soll in ein Unwetter geraten sein. Er wollte sich wohl unter einem Baum in Sicherheit bringen, als ihn ein Blitz … « Sie stockte erneut und senkte die Lider.
» Das ist ja schrecklich! Wenn ich Euch irgendwie helfen kann, so sagt es nur « , bot Osiander an. » Sind sich die Büttel ganz sicher, dass es sich bei dem Toten um Euren Mann
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