Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
schlief noch friedlich, als Anna mit einem skeptischen Blick aus dem Butzenfenster der Küche sah. In feinen Fäden fiel der Regen vom Himmel. Sie seufzte. Gewiss hatte Korbinian vergangene Nacht in Ansbach übernachtet und würde, sobald die Sonne höher am Himmel stand, den Rückweg antreten. Vielleicht hatte das Porträtieren des Kaufmannssohnes mehr Zeit in Anspruch genommen als geplant – welches Kind von fünf Jahren mochte schon stundenlang still sitzen, nur um sich malen zu lassen? Sie nahm ein paar trockene Zweige aus dem großen, mit Holz und Reisig gefüllten Weidenkorb, legte sie zusammen mit einem kleinen Stück Zunderpilz in den Herd daneben und schlug das Schlageisen gegen den Feuerstein. Bald darauf konnte sie zwei Holzscheite in die Flammen legen, und Wärme erfüllte den kleinen Raum.
Wenn Korbinian nicht an diesem Tag zurückkäme, dann spätestens am nächsten, mit fünf oder sechs Goldgulden im Geldbeutel. Wahrscheinlich hatte er bisher keinen Fuhrmann gefunden, der in Richtung Nürnberg unterwegs war, und zögerte nun angesichts des andauernden Regens und des schweren Gepäcks, sich zu Fuß auf den Rückweg zu machen. Anna zog das wollene Tuch, das sie über den Schultern trug, enger. Ihre Gedanken wanderten zum letzten Winter zurück, den sie im Kloster in Regensburg verbracht hatte. Wie sehr sich ihr Leben seither verändert hatte! Von all ihren Träumen war ihr nichts außer Erinnerungen geblieben. Dafür war ihr das Glück zuteilgeworden, einen Ehemann wie ihren Korbinian bekommen zu haben. Rasch wandte sie sich vom Herd ab und schlich in Lenchens Kammer, um sich neben die Wiege zu setzen und den Schlaf des Kindes zu bewachen. Die Kleine hatte die gleichen lockigen Haare wie ihr Vater, und wenn sie schlief, verzog sie stets die Lippen zu einem Schmollmund. Ihre Wangen waren gerötet und die Händchen seitlich am Körper zu Fäusten geballt. Sanft strich Anna dem Kind über den Kopf und wusste, sie liebte es, als wäre es ihr eigenes. Wenn Lenchen erst größer war, würden sie ihr von der Mutter erzählen müssen.
Bis auf den Besuch eines jungen Benediktinermönchs, der im Auftrag seines Abtes einen guten Maler suchte, verlief der Tag ereignislos. Immer wieder schaute Anna aus dem Fenster, denn eine ganze Reihe von Fuhrwerken passierte die Gasse. Korbinian jedoch war nicht unter den Reisenden.
Mit jedem Tag, der verging, wuchs Annas Furcht. Wenn Korbinian nur keiner Bande von Wegelagerern in die Hände gefallen war! Schreckliche Bilder drängten sich ihr auf, von rohen Gestalten, die ihm auflauerten und ihn ausraubten. Sie konnte die Gedanken nur mit Gewalt von sich schieben. Wo steckte er nur? Die Nächte verbrachte sie zwischen Albträumen und Wachzuständen, in denen sie das sichere Gefühl nicht loswurde, sie müsste etwas unternehmen. Aber wenn sie morgens erwachte, schalt sie sich eine überängstliche Närrin, denn wie oft kehrten Händler oder Künstler erst Tage später heim als erwartet?
Während die Tage verstrichen und sie ihren alltäglichen Pflichten nachging, meinte sie immerzu, Korbinians Schritte im Flur zu hören, oder sein lieb gewordenes Gesicht tauchte plötzlich vor ihr auf. Niemals hätte sie geglaubt, dass sie sich ohne ihn so einsam fühlen würde. Wann war es nur geschehen, dass er sich ganz leise, beinahe unmerklich, in ihr Herz geschlichen hatte? Auch Lenchen schien ihre Unruhe zu spüren, denn sie wurde von Tag zu Tag unleidlicher.
Als Korbinian nach einer Woche noch immer nicht zurückgekehrt war und die nagende Sorge um ihn sie schier um den Verstand zu bringen drohte, machte Anna sich am Morgen des achten Tages schließlich auf den Weg zum Stadtrat und meldete ihren Mann als vermisst. Äußerlich gefasst, gab sie eine genaue Beschreibung von ihm ab, schilderte die Kleidung, die er bei seinem Fortgang getragen hatte, sowie den Grund und die Route seiner Reise. Mit einem freundlichen Nicken versicherte ihr der Ratssekretär, sie sogleich benachrichtigen zu lassen, sobald jemand Kunde von Korbinian erhalten würde.
Wieder zu Hause, konnte sie nicht länger an sich halten und ließ ihrem Kummer freien Lauf, bis es an der Tür klopfte. Sie wischte die Tränen fort und erhob sich. Ein Kunde wollte ein Bild abholen, und sie händigte es ihm aus. Nachdem der Mann gegangen war, beschloss sie, im Haus für Ordnung zu sorgen. Doch auch während sie mit dem Reisigbesen durch Küche, Stube und Werkstatt ging und den Staub zusammenfegte, kehrten ihre Gedanken
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