Das Lied vom Schwarzen Tod: Historischer Roman (German Edition)
kein großer Kirchgänger. Höchstens alle paar Wochen haben wir die Messe besucht. «
Der Pfarrer ergriff ihre Hand und hielt sie fest. » Macht Ihr Euch etwa Sorgen, Euer Mann müsse zu lange im Fegfeuer bleiben? Da kann ich Euch beruhigen, denn vor unserem Herrn Jesus Christus zählt nicht, wie oft wir in die Kirche gehen. Unser Herr legt keinen Wert auf Äußerlichkeiten, sondern sieht das Herz an, heißt es in der Heiligen Schrift. Menschen haben nicht über andere zu richten, das steht allein Gott zu. «
» Das sagt Ihr, ein Pfarrer? «
Osianders Lippen hoben sich. » Das sage ich, ein Pfarrer, der es mit Martin Luther hält, dem von Gott gesandten Erneuerer unserer Kirche. Luther schreibt in seinen Thesen, die Lehre vom Fegfeuer sei ein Unkraut, das der Teufel gesät hat, während die Bischöfe schliefen. In der biblia werdet Ihr vergeblich nach einem solchen Ort suchen. Wie schon der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer, so lehrt auch Martin Luther, dass wir nur aus Gnade gerecht werden, nicht um unserer Werke willen, mögen sie auch noch so gut sein. «
» Meint Ihr wirklich? Wir waren ja nicht lange verheiratet, aber so, wie ich Korbinian kannte, hat er gewiss niemandem absichtlich Schaden zugefügt. «
Der Pfarrer betrachtete sie eingehend, während sie sprach, doch sie wich seiner Musterung nicht aus. » Auf Euch kommen schwere Zeiten zu, Frau Dietl. Als alleinstehende Frau mit einem Kleinkind und einer Werkstatt werdet Ihr jeden Beistand benötigen. « Die kleinen Falten um seine Augen wurden tiefer. » Ihr könnt jederzeit auf mich zählen. So, wie ich Euch einschätze, wird es Euch gelingen, Euer Leben neu zu ordnen. Mir scheint, der Verstorbene – Gott möge seiner Seele gnädig sein – hat seine Gattin klug gewählt. «
Anna murmelte einen Dank und senkte den Kopf, um die aufsteigende Röte ihrer Wangen zu verbergen.
In einiger Entfernung erblickte sie mehrere mächtige Bäume, deren kahle Äste bis in den grauen Himmel zu ragen schienen. Einer der Stämme war von oben bis zum Boden gespalten. Das musste der Baum sein, unter dem Korbinian Schutz vor dem Unwetter gesucht hatte. Annas Herz klopfte schmerzhaft gegen die Rippen, als sie sich der Stelle näherten, an der ein Hügel frisch ausgehobener Erde von dem grauenhaften Fund der Reisenden zeugte. Andreas Osiander lenkte den Wagen zum Wegesrand und hielt ihn an. Er kletterte vom Kutschbock und half Anna, die sich Lenchen auf die Hüfte setzte, wortlos hinunter. Sie ließ den Blick schweifen. Felder und Schafsweiden, so weit das Auge reichte, nur unterbrochen von einem schmalen Waldsaum, der sich dunkel gegen den diesigen Himmel abhob. Bilder von Schatten drängten sich ihr auf, Tiere, die sich aus dem nächtlichen Wald lösten, um sich fauchend und knurrend auf Korbinians reglose Gestalt zu stürzen. Ihre schmatzenden Laute vermischten sich mit heiserem Vogelgeschrei. Sie fröstelte.
Andreas Osiander trat neben sie. Der Pfarrer heftete den Blick auf den von einer dünnen Schneeschicht bedeckten Erdhügel. Die beiden Händler hatten ein einfaches Holzkreuz aus zwei zusammengebundenen Ästen daraufgesteckt. Osiander schloss die Augen und faltete die Hände. Anna tat es ihm gleich.
» Herr, es hat dir gefallen, Korbinian Dietl zu dir zu nehmen « , begann der Pfarrer mit kräftiger Stimme zu beten. » Schmerzlich müssen wir erleben, was dein Wort im Buch des Propheten Jesaja sagt: ›Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege.‹ So müssen auch wir, die wir heute am Grab von Anna Dietls Mann stehen, bekennen, wir verstehen deine Gedanken nicht. Wir fragen nach dem Sinn. Warum musste Korbinian Dietl sterben, ein guter Ehemann und Vater, ein hilfsbereiter Mensch? Wenn es eine Antwort darauf gibt, so kennen wir sie nicht. Aber eines wissen wir: Du versprichst den Witwen und Waisen dieser Welt, sie nicht allein zu lassen in ihrer Trauer. Das ist gewisslich wahr. Herr, lehre auch uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden, und nimm den Verstorbenen gnädig in dein Reich auf. Amen. «
Nun war es an Anna, ein kurzes Totengebet zu sprechen, doch ihr fehlten die Worte. So griff sie nur nach dem Rosenkranz, den sie mitgenommen hatte, und ließ die Perlenschnur durch die Finger gleiten.
Wenig später erreichten sie Ansbach, wo Osiander den Wagen vor einem einfachen Gebäude zum Stehen brachte.
» Hier wohnen die Leute, die ich aufsuchen möchte. « Er wies die Gasse entlang. »
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