Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell
Viserys gelebt, stets auf der Hut, den Drachen nicht zu wecken. Dies hier war sogar noch schlimmer. Jetzt galt die Angst nicht nur ihr selbst, sondern ihrem Sohn. Er schien ihre Sorge zu spüren, denn er rührte sich rastlos in ihrem Bauch. Sanft strich Dany über die Wölbung, wünschte, sie könne ihn berühren, ihn umarmen, trösten. »Du bist das Blut des Drachen, mein Kleiner«, flüsterte sie, während ihre Sänfte schaukelte, die Vorhänge zugezogen. »Du bist das Blut des Drachen, und der Drachen fürchtet sich nicht.«
Unter dem hohlen Erdhügel, den sie in Vaes Dothrak bewohnte, entließ Dany sie alle … nur Ser Jorah nicht. »Sagt mir«, befahl sie, während sie auf ihre Kissen sank, »war es der Usurpator?«
»Ja.« Der Ritter zog ein gefaltetes Pergament hervor. »Ein Brief an Viserys von Magister Illyrio. Robert Baratheon bietet Land und Lordschaft für Euren Tod und den Eures Bruders. «
»Für den Tod meines Bruders?« Ihr Schluchzen war ein halbes Lachen. »Er weiß es noch nicht, was? Der Usurpator schuldet Drogo eine Lordschaft.« Diesmal war ihr Lachen ein halbes Schluchzen. Schützend legte sie die Arme um sich. »Und für meinen Tod, sagt Ihr? Nur meinen?«
»Für Euren und den des Kindes«, erwiderte Jorah grimmig.
»Nein. Er darf meinen Sohn nicht bekommen.« Sie wollte nicht weinen, beschloss sie. Sie wollte nicht vor Angst zittern. Jetzt hat der Usurpator den Drachen geweckt, sagte sie
sich … und ihr Blick fuhr zu den Dracheneiern, die in ihrem Nest von schwarzem Samt lagen. Der flackernde Lichterschein zeichnete die steinernen Schuppen nach, und schimmernde Stäubchen von Jade und Rot und Gold schwirrten in der Luft wie Höflinge um einen König.
War es der Wahnsinn, der von ihr Besitz ergriff, aus Angst geboren? Oder ein uraltes Wissen, das in ihrem Blut verewigt war? Dany konnte es nicht sagen. Sie hörte, wie ihre eigene Stimme sprach: »Ser Jorah, zündet die Kohlenpfanne an.«
»Khaleesi?« Der Ritter blickte sie verwundert an. »Es ist so heiß. Seid Ihr sicher?«
Nie zuvor war sie sicherer gewesen. »Ja. Mir … mir ist kalt. Zündet die Kohlenpfanne an.«
Er verneigte sich. »Euer Wunsch ist mir Befehl.«
Als die Kohlen glühten, schickte Dany Ser Jorah fort. Sie musste bei dem, was sie tun wollte, allein sein. Es ist Wahnsinn, sagte sie sich, indes sie das schwarzrote Ei vom Samt nahm. Es wird nur zerbrechen und brennen, und es ist so schön. Ser Jorah wird mich eine Närrin schimpfen, wenn ich es ruiniere, und dennoch, dennoch …
Mit beiden Händen trug sie das Ei zum Feuer und legte es zwischen die brennenden Kohlen. Die schwarzen Schuppen erglühten, tranken die Hitze. Flammen leckten mit kleinen, roten Zungen am Stein. Dany legte die beiden anderen Steine neben das Schwarze ins Feuer. Sie trat von der Kohlenpfanne zurück, und der Atem in ihrer Kehle bebte.
Sie sah zu, bis die Kohle zu Asche verfallen war. Funken stoben zum Rauchloch auf. Hitze umflimmerte die Dracheneier in Wellen. Und das war alles.
Euer Bruder Rhaegar war der letzte Drache, hatte Ser Jorah gesagt. Traurig betrachtete Dany die Eier. Was hatte sie erwartet? Vor tausend tausend Jahren hatten sie gelebt, doch jetzt waren sie nur noch hübsche Steine. Sie konnte keinen
Drachen machen. Ein Drache war Luft und Feuer. Lebendes Fleisch, nicht toter Stein.
Die Kohlenpfanne war bereits erkaltet, als Khal Drogo zurückkehrte. Cohollo führte ein Packpferd bei sich, auf dessen Rücken der Kadaver eines großen, weißen Löwen festgezurrt war. Darüber kamen die Sterne heraus. Der Khal lachte, als er sich von seinem Hengst schwang und ihr die Wunden an seinem Bein zeigte, die ihm der Hrakkar durch die Hosen hindurch beigebracht hatte. »Ich will dir aus seinem Fell einen Umhang machen, Mond meines Lebens«, versprach er.
Als Dany ihm erzählte, was auf dem Markt geschehen war, brach alles Lachen ab, und Khal Drogo wurde ganz still.
»Dieser Giftmischer war der Erste«, warnte Ser Jorah, »doch wird er nicht der Letzte sein. Menschen riskieren viel für eine Lordschaft.«
Drogo schwieg für eine Weile. Schließlich sagte er: »Dieser Gifthändler ist vor dem Mond meines Lebens fortgelaufen. Lieber hätte er ihr nachlaufen sollen. Und das wird er tun. Jhogo, Jorah, der Andale, Euch beiden sage ich: Wählt Euch jeder ein Pferd aus meiner Herde, und es soll Euch gehören. Von allen Pferden, bis auf meinen Roten und die Silberne, die mein Brautgeschenk an den Mond meines Lebens war. Damit will ich Euch
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