Das Lied von Eis und Feuer 04 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 04 - A Clash of Kings (Pages 332-728)
Der letzte Tod muss zählen , sagte sich Arya jede Nacht, wenn sie die Namen vor sich hin flüsterte. Jetzt jedoch fragte sie sich, ob das wirklich der Grund war, weshalb sie zögerte. Solange sie mit einem Flüstern töten konnte, brauchte sie sich vor niemandem zu fürchten … doch nachdem sie den letzten Tod verbraucht hätte, wäre sie wieder eine Maus.
Da Triefauge bereits aufgestanden war, wagte sie es nicht, in ihr Bett zurückzukehren. Weil sie nicht wusste, wo sie sich sonst verstecken sollte, machte sie sich zum Götterhain auf. Der scharfe Geruch der Kiefern und Wachbäume, das weiche Gras und die Erde zwischen ihren Zehen und das Rauschen der Blätter im Wind gefielen ihr. Ein kleiner Bach wand sich durch den Hain, und an einer Stelle hatte das Wasser den Boden unter einem umgestürzten Baum fortgespült.
Dort, unter dem verrottenden Holz und den gespaltenen Ästen, fand sie das Schwert, das sie versteckt hatte.
Gendry war zu stur, um eins für sie zu schmieden, deshalb hatte sie sich selbst eins gemacht, indem sie die Borsten von einem Besen brach. Zwar war die Klinge viel zu leicht und hatte kein anständiges Heft, doch ihr gefiel das zersplitterte, scharfe Ende. Wann immer sie eine freie Stunde hatte, stahl sie sich davon und machte die Übungen, die Syrio sie gelehrt hatte, tänzelte barfuß über das Laub, schlug nach Ästen und trennte Blätter von Zweigen. Manchmal kletterte sie sogar in die Bäume hinauf, tanzte auf den oberen Ästen, hielt sich mit den Zehen an der Rinde fest und schwankte jeden Tag weniger, denn ihr Gleichgewichtssinn kehrte langsam zurück. Die Nacht war die beste Zeit dafür; niemand störte sie des Nachts.
Arya kletterte. Oben im Königreich der Blätter zog sie das Schwert aus der Scheide und vergaß sie alle, Ser Amory und den Mummenschanz und sogar die Männer ihres Vaters. Sie verlor sich in dem Gefühl des rauen Holzes unter ihren Füßen und ließ ihr Schwert durch die Luft zischen. Ein abgebrochener Ast wurde zu Joffrey. Sie schlug auf ihn ein, bis er hinunterfiel. Die Königin und Ser Ilyn und Ser Meryn und der Bluthund waren nur Blätter, doch auch diese tötete sie und zerfetzte sie zu grünen feuchten Schnipseln. Als ihr Arm schließlich ermüdete, setzte sie sich und ließ die Beine von einem Ast hoch oben baumeln, während sie die kühle Luft tief in die Lungen sog und den schrillen Lauten der jagenden Fledermäuse lauschte. Durch den Laubbaldachin konnte sie die knochenweißen Zweige des Herzbaumes sehen. Von hier aus sieht er aus wie der in Winterfell. Wenn er es nur wirklich sein könnte – dann würde sie einfach hinunterklettern und wieder zu Hause sein, und vielleicht würde sie ihren Vater an seinem alten Lieblingsplatz unter dem Wehrholzbaum finden.
Sie schob das Schwert durch den Gürtel und hangelte sich
von Ast zu Ast, bis sie wieder unten war. Sie lief zum Wehrholzbaum hinüber, dessen Zweige das Mondlicht silberweiß färbte, während die fünfzackigen roten Blätter in der Nacht schwarz geworden waren. Arya starrte das Gesicht an, das in den Stamm geschnitzt war. Es war ein fürchterliches Antlitz mit verzerrtem Mund und hasserfüllten Augen. Sah so ein Gott aus? Konnten Götter verletzt werden, so wie Menschen auch? Ich sollte beten, dachte sie plötzlich.
Arya kniete nieder. Sie war nicht sicher, wie sie anfangen sollte, und faltete zunächst einmal die Hände. Helft mir, ihr alten Götter, betete sie still. Helft mir, diese Männer aus dem Kerker zu befreien, damit wir Ser Amory töten können, und bringt mich zurück nach Winterfell. Macht mich zu einer Wassertänzerin und zu einem Wolf, und lasst mich nie, nie wieder Angst haben.
Genügte das? Vielleicht müsste sie laut beten, damit die alten Götter sie hörten. Oder länger? Manchmal hatte ihr Vater sehr lange gebetet, daran erinnerte sie sich noch. Doch die alten Götter hatten ihm nie geholfen. Bei diesem Gedanken wurde sie wütend. »Ihr hättet ihn retten sollen«, schalt sie den Baum. »Er hat immer zu euch gebetet. Mir ist es egal, ob ihr mir helft oder nicht. Ich glaube, ihr könntet es überhaupt nicht, selbst wenn ihr wolltet.«
»Götter verspottet man nicht, Mädchen.«
Die Stimme erschreckte sie. Sie sprang auf die Füße und zog ihr Holzschwert. Jaqen H’ghar stand so still in der Dunkelheit, dass man ihn mit einem der Bäume hätte verwechseln können. »Der Mann kommt, um einen Namen zu hören. Eins und zwei, und dann folgt drei. Der Mann möchte es hinter sich
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