Das Lied von Eis und Feuer 6 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 6 - A Storm of Swords. Book Three of A Song of Ice and Fire (2)
die mit Speeren in der Hand lostrabten. Inzwischen hatte Jon es ebenfalls gesehen: Feuerschein, der den alten Schornstein des Gasthauses in rötliches Licht tauchte. Wir sind nicht allein. Das Entsetzen sprang ihn an wie ein wildes Tier. Er hörte ein Pferd wiehern, dann Rufe. Reite mit ihnen, iss mit ihnen, kämpfe mit ihnen, hatte Qhorin gesagt.
Das Kämpfen war allerdings schon erledigt. »Es war nur einer«, berichtete Errok bei seiner Rückkehr. »Ein alter Mann mit einem Pferd.«
Der Magnar gab Befehle in der Alten Sprache und stellte zwanzig Mann als Wachen um die Ortschaft herum auf, während andere die Häuser durchstöberten und nachschauten, ob
sich nicht noch weitere Männer zwischen Unkraut und Schutt verbargen. Der Rest versammelte sich in dem Gasthaus ohne Dach und drängte sich dicht um das Feuer. Die abgebrochenen Äste, die der alte Mann angesteckt hatte, schienen mehr Rauch als Hitze zu erzeugen, in dieser regnerischen Nacht war allerdings jegliche Wärme willkommen. Zwei der Thenns hatten den Mann zu Boden geworfen und durchsuchten nun seine Sachen. Ein Dritter hielt sein Pferd, derweil weitere drei seine Satteltaschen plünderten.
Jon ging vom Lager fort. Ein fauler Apfel zerplatzte unter seinem Absatz. Styr wird ihn töten. Das hatte der Magnar schon in Grauwacht verkündet: Alle Knienden, auf die sie stießen, sollten sofort getötet werden; damit wollte er sichergehen, dass sie auf keinen Fall jemanden warnen konnten. Reite mit ihnen, iss mit ihnen, kämpfe mit ihnen. Musste er auch stumm daneben stehen und mit ansehen, wie einem alten Mann die Kehle durchgeschnitten wurde?
Am Rande des Dorfes traf Jon auf eine der Wachen, die Styr aufgestellt hatte. Der Thenn knurrte etwas in der Alten Sprache und deutete mit seinem Speer auf das Gasthaus. Geh dorthin, wo du hingehörst, deutete Jon die Geste. Aber wo ist das?
Er schlenderte zum Wasser und entdeckte eine nahezu trockene Stelle unter einer schiefen Wand aus Lehmflechtwerk, die zu einem verfallenen, fast gänzlich eingestürzten Häuschen gehörte. Dort fand Ygritte ihn schließlich, wie er sitzend auf den See hinausstarrte, auf den der Regen niederpeitschte. »Ich kenne diesen Ort«, sagte er, als sie sich neben ihn setzte. »Dieser Turm … Schau dir beim nächsten Blitz die Spitze an und sag mir, was du dort siehst.«
»Gut, wenn du möchtest«, meinte sie und dann: »Ein paar von den Thenns behaupten, sie hätten Geräusche von dort draußen gehört. Rufe, sagen sie.«
»Donner.«
»Sie sagen Rufe. Vielleicht sind es Geister.«
Der grimmige Wehrturm machte schon den Eindruck, als
könnte es dort spuken, so wie er dort inmitten des Sturms schwarz auf seiner Felseninsel stand, während der Regen auf den See prasselte. »Wir können hinübergehen und einen Blick riskieren«, schlug er vor. »Ich bezweifle, dass wir noch nasser werden können, als wir schon sind.«
»Schwimmen? In diesem Sturm?« Sie lachte über die Idee. »Ist das ein Trick, damit ich meine Kleider ausziehe, Jon Schnee?«
»Brauche ich dafür neuerdings Tricks?«, stichelte er. »Oder kannst du vielleicht nicht schwimmen?« Jon selbst war ein guter Schwimmer, er hatte schon als kleiner Junge im großen Wassergraben von Winterfell Schwimmen gelernt.
Ygritte schlug ihm auf den Arm. »Du weißt gar nichts, Jon Schnee. Ich bin ein halber Fisch, das kannst du mir glauben. «
»Halb Fisch, halb Ziege, halb Pferd … Du bestehst aus zu vielen Hälften, Ygritte.« Er schüttelte den Kopf. »Wir brauchen nicht zu schwimmen, wenn es der Ort ist, für den ich ihn halte. Wir können zu Fuß gehen.«
Sie wich zurück und sah ihn schief an. »Übers Wasser gehen? Was für eine Zauberei des Südens soll das nun wieder sein?«
»Keine Zau…« setzte er an, als ein riesiger Blitz über den Himmel zuckte und die Oberfläche des Sees berührte. Einen halben Herzschlag lang war die Welt so hell wie zur Mittagszeit. Der Donnerschlag war so laut, dass Ygritte der Atem stockte und sie sich die Ohren zuhielt.
»Hast du hingesehen?«, fragte Jon, nachdem das Grollen verklungen und die Nacht wieder schwarz geworden war. »Hast du es gesehen?«
»Gelb«, sagte sie. »Hast du das gemeint? Einige der aufrechten Steine auf der Spitze waren gelb.«
»Wir nennen sie Zinnen. Sie wurden vor langer Zeit mit Blattgold beschlagen. Das ist Königinkron.«
Jenseits des Sees lag der Turm wieder im Dunkeln, ein
schwacher Schemen, der kaum zu erkennen war. »Da hat mal eine Königin gewohnt?«,
Weitere Kostenlose Bücher