Das Lied von Eis und Feuer 7 - Martin, G: Lied von Eis und Feuer 7 - A Feast of Crows. A Song of Ice and Fire, vol 4 (4/1)
nicht auch Varys ermordet und seine Leiche unter der Burg versteckt hat, damit sie dort verrotten kann. Dort unten konnte es Jahre dauern, bis man die Knochen fand. Jaime hatte ein Dutzend Wachen hinuntergeführt, mit Fackeln, Seilen und Laternen ausgerüstet. Stundenlang hatten sie die gewundenen Tunnel, schmalen Kriechgänge, verborgenen Türen und geheimen Treppen erkundet und dazu Schächte, die sich tief in völliger Dunkelheit verloren. Selten hatte er sich so sehr wie ein Krüppel gefühlt. Ein Mann betrachtet vieles als selbstverständlich, wenn er zwei Hände hat. Leitern zum Beispiel. Sogar Kriechen war nicht leicht; nicht umsonst hieß es »auf Händen und Knien«. Auch konnte er nicht wie die anderen gleichzeitig eine Fackel halten und klettern.
Und alles vergeblich. Sie hatten nur Dunkelheit, Staub und Ratten vorgefunden. Und Drachen, die dort unten lauern. Er erinnerte sich an das trübe orangefarbene Glühen der Kohlen in einem eisernen Drachenmaul. Das Kohlenbecken wärmte eine Kammer am Grunde eines Schachtes, wo ein halbes Dutzend Tunnel aufeinanderstießen. Am Boden hatte er ein abgetretenes Mosaik aus roten und schwarzen Kacheln mit dem dreiköpfigen Drachen des Hauses Targaryen entdeckt. Ich kenne dich, Königsmörder, schien die Bestie zu sagen. Ich war die ganze Zeit hier und habe auf dich gewartet. Und Jaime kam es vor, als kenne er diese Stimme, diesen unnachgiebigen Ton, die zu Rhaegar gehörten, dem Prinzen von Drachenstein.
Der Tag, an dem er sich im Hof des Roten Bergfrieds von Rhaegar verabschiedet hatte, war windig gewesen. Der Prinz trug seine nachtschwarze Rüstung, auf deren Brustpanzer der dreiköpfige Drache in Rubinen prangte. »Euer Gnaden«, hatte
Jaime inständig gebeten, »lasst diesmal Darry zurück, um den König zu bewachen, oder Ser Barristan. Ihre Mäntel sind ebenso weiß wie meiner.«
Prinz Rhaegar schüttelte den Kopf. »Mein königlicher Vater fürchtet Euren Vater mehr als unseren Vetter Robert. Er möchte Euch in der Nähe wissen, damit Lord Tywin ihm nichts zuleide tun kann. Ich wage es nicht, ihm in dieser Stunde eine solche Krücke zu nehmen.«
In Jaime war Wut aufgestiegen. »Ich bin keine Krücke. Ich bin ein Ritter der Königsgarde.«
»Dann bewacht den König«, fuhr Ser Jon Darry ihn an. »Als Ihr diesen Mantel angelegt habt, habt Ihr Gehorsam geschworen.«
Rhaegar hatte Jaime die Hand auf die Schulter gelegt. »Nach dieser Schlacht beabsichtige ich, einen Rat einzuberufen. Es wird Veränderungen geben. Das wollte ich schon vor langer Zeit tun, aber … nun, es bringt nichts ein, über die Wege zu reden, die man im Leben nicht eingeschlagen hat. Wir sprechen darüber, wenn ich zurückkehre.«
Das waren die letzten Worte gewesen, die Rhaegar Targaryen zu ihm gesagt hatte. Vor den Toren hatte sich eine Armee versammelt, eine zweite kam zum Trident herunter. Und so hatte der Prinz von Drachenstein sein Pferd bestiegen, hatte den hohen schwarzen Helm aufgesetzt und war in sein Verderben geritten.
Er lag richtiger, als er ahnte. Nach der Schlacht folgten in der Tat Veränderungen. »Aerys hat geglaubt, ihm könne nichts geschehen, solange ich in seiner Nähe sei«, erzählte er dem Leichnam seines Vaters. »Ist das nicht zum Lachen?« Lord Tywin stimmte dem anscheinend zu; sein Lächeln war breiter als zuvor. Offensichtlich genießt er es, tot zu sein.
Es war sonderbar, doch Jaime verspürte keine Trauer. Wo bleiben meine Tränen? Wo bleibt mein Zorn? An Zorn hatte es Jaime Lennister nie gemangelt. »Vater«, sagte er zu dem Toten, »Ihr wart es doch, der mir erklärt hat, Tränen seien bei einem
Mann ein Zeichen von Schwäche, also könnt Ihr nicht erwarten, dass ich um Euch weine.«
Tausend Lords und Ladys waren am Morgen gekommen, um an der Bahre vorbeizudefilieren, und am Nachmittag mehrere Tausend aus dem gemeinen Volke. Alle trugen dunkle Gewänder und feierliche Mienen, doch Jaime hegte den Verdacht, dass sich viele, viele im Geheimen darüber freuten, diesen großen Mann gedemütigt zu sehen. Selbst im Westen hatte man Lord Tywin eher geachtet als geliebt, und Königsmund hatte die Plünderung nicht vergessen.
Von allen Trauernden schien Großmaester Pycelle am heftigsten erschüttert zu sein. »Ich habe sechs Königen gedient«, sagte er nach der zweiten Andacht zu Jaime, während er skeptisch an der Leiche schnüffelte, »dennoch liegt vor uns ohne Zweifel der größte Mann, den ich je gekannt habe. Lord Tywin trug keine Krone, und dennoch
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