Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
dass das Licht des Steins nicht zu hell war. Das Herz klopfte ihr bis in den Hals. Immer weiter breitete sich das Labyrinth aus, bis es schließlich einrastete. Noch nie, nicht einmal in Büchern, hatte sie solch eine ungewöhnlich Anordnung der Wege gesehen. Sie waren in konzentrischen Kreisen angelegt, doch wirkten sie gleichermaßen verschlungen. Sogar eine Stimmung ging von ihnen aus. Roh, wild und doch gezähmt. Es war wunderschön anzusehen. ›Wie hatte Leonardo das übersehen können? Und erst recht der Zauberer, den er hatte kommen lassen?‹ Das hier, so wurde ihr klar, war Magie, die weitaus mächtiger war. Ihr Vater hatte ihr einmal erzählt, dass Labyrinthe schlafen könnten, für sehr lange Zeit sogar.
Mit einem Finger strich sie sachte über das tadellose Metall. Es hatte in all den Jahren nicht einen Flecken bekommen. Das war Wahnsinn. Die Neugier trieb sie dazu, auch den Stein zu berühren, der in der Mitte der Rose schimmerte. Es war ein Bernstein, das erkannte sie. Sofort summte der Kompass erneut, eine Art Dach strebte von den jeweils gegenüberliegenden Seiten aufeinander zu, fügte sich dann ineinander und schloss sich über der Windrose. Das Licht wurde für ein Zwinkern lang heller, dann erschien mitten zwischen den Symbolen der Halbkugel ein gefalteter Zettel. A hielt die Luft an. Sie hatte soeben einen wahrhaftigen Zauber erlebt. Die Haube senkte sich zurück und ließ das Schriftstück in seiner Mitte liegen. Ein vager Duft von Feuer und Holz hing daran. Mit zittrigen Fingern nahm sie das Papier.
Sie schlug die Decke zurück, ihr war plötzlich viel zu warm. Mit dem Brief in der Hand tappte sie durch das Zimmer, auf und ab, sah aus dem Fenster, sah auf den Brief. Ihre Hände schwitzten und jähe Panik, sie könne die Zeilen damit verwischen, überkam sie. Anevay öffnete ihn.
Ihr Mund wurde trocken. Die Schrift, die dort so deutlich auf dem Pergament prangte, war in klaren, geschwungenen Buchstaben geschrieben, die sie nicht einmal mit viel Üben hinbekommen hätte. Sie flog über die Zeilen, doch sie wollte sie nicht lesen, aus Angst, sie könne enttäuscht werden, oder aus Vorfreude, sie könne etwas Wunderbares entdecken und dennoch verlieren. Sie schloss die Augen und roch an dem Pergament. Der Geruch von Schnee hing darin, zusätzlich zum Holz und dem von Feuer. Ihr Herz schlug aufgeregt. Sie zündete eine Kerze an, setzte sich ans Fenster, den Bauch voller Bienen.
Sie atmete einmal tief ein, dann las sie:
Mein Himmel, mein Stern,
hier sitze ich erneut in der Dunkelheit, beim Lichte einer einzelnen Flamme und frage mich eines wohl zum hundertsten Mal: Wer bin ich? Was bin ich?
Der Wind antwortet mir nicht, wenn in der Nacht er um die Türme klagt, der Mond schweigt zwischen seinen Wolken und selbst die Götter Asgards wissen keinen Rat.
Man gab mir einen neuen Namen, doch wohin führt mich dieser Weg? Soll ich ihn annehmen, ihn hineinlassen in mein Leben? Ich habe Angst, dem nicht gewachsen zu sein. Der Anblick dieses Namens wühlt in mir.
Dort, weit draußen, zwischen den Wellen, beginnt der Körper meines Vaters sich aufzulösen, das tote Fleisch senkt sich in die Strömung und tritt seine niemals endende Reise durch die Meere an.
Ich dachte, ich hätte keinen Zorn mehr zwischen meinen Rippen. Doch in meinen Träumen klappern die Fensterläden verborgener Räume und zeigen mir, dass es immer noch tiefer gehen kann, als man geglaubt hat. Eine weitere Treppe schält sich aus der Finsternis, führt tiefer hinab in die Seele, in unbekanntes Land. Dorthin, wo niemand dich je findet.
Ich dachte, ich verstehe all das irgendwie und irgendwann. Aber ich verstehe gar nichts.
Ich habe gedacht, ich könne eine Brise sein. Ein sanfter Tag, der einfach nur am Leben ist. Aber dem ist nicht so. Ich habe Sturmwolken in den Schultern und das muss ich ebenso annehmen, wie alles andere in dieser Welt auch.
Kennst du das, wenn alles in dir nur noch fliehen möchte, aber nicht weiß, welchen Weg es nehmen soll?
Ängstigt mich der Tod? Ich denke, nein. Doch würde ich vieles vermissen. Ich würde DICH vermissen, obwohl ich dich nicht einmal kenne. Ich würde den Anblick von grünen Hügeln vermissen. Den Geruch von warmem Haar, nachdem es in der Sonne geschlafen hat.
Doch bin ich jetzt hier und bin das, was ich bin. Ich darf nirgendwo anders sein.
Doch werde ich einen Weg finden.
Ich finde ihn.
Anevay ließ den Brief sinken. Ihr Herzschlag war verstummt. Sie war erstarrt.
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