Das Lied von Schnee & Liebe (The Empires of Stones, Band 2) (German Edition)
Himmelweite Ruhe überkam sie. In ihrem Zimmer verhallte der letzte Ton eines fernen Pianos.
Die Angst und die Vorfreude hatten sich verwandelt. In lebendige Stille.
A strich mit den Fingerspitzen über die Zeilen. Über jede einzelne. Sie wusste, dass sie die Worte bereits auswendig kannte, und sie wusste, dass sie diesen Brief noch mindestens zehntausend Mal in ihrem Leben lesen würde. Etwas war in ihren Kreis getreten, es würde nicht mehr fortgehen. Es konnte nicht mehr fortgehen. Denn es hatte bereits einen Weg gefunden. Den in ihr Herz.
Ganz behutsam faltete sie den Brief zusammen, schloss die Augen und küsste ihn so sanft wie ein ferner Wind.
In New York City begann es zu schneien.
Aufzuwachen war niemals gut. Entweder man begann den Tag mit Albträumen oder der beginnende Morgen stahl diejenigen, die allzu schön gewesen waren.
Anevay aber hatte jetzt mehr.
Mit einem Lächeln stand sie auf, ihre Muskeln schmerzten weniger als sonst, sie fädelte den Kompass in eine Kordel und band ihn sich um den Hals. Den Brief legte sie auf ihre Haut, zwischen die Brüste, die sie jeden Morgen mit Bandagen umwickelte. So war er immer ganz nah bei ihr.
Heute musste sie mit Francesca einkaufen gehen. Sie brauchte, auch wenn sie sich wie ein Mann kleidete, passende Unterwäsche und so.
Francesca war ein Wesen, das A nicht verstand. Sie lebte in einer Welt aus geschnürtem Angebot und williger Nachfrage und machte auch keinen Hehl daraus, dass sie eine von Leonardos Wunderkerzen war. Die Männer waren verrückt nach ihr, was Anevay durchaus verstehen konnte und sie selbst an ihrer Weiblichkeit herunter blicken ließ, wie ein Maurer an einer vollkommen schiefen Wand.
»Das wird schon noch«, sprudelte Francesca dann. »Du bist noch jung.« A hatte da so ihre Zweifel. Kein Blut, keine Frau. Niemand.
Aber vielleicht gab es mehr als das?
In einem Laden in der Cotton Road musste A in pludrige Schlüpfer steigen. Vehement schüttelte sie den Kopf, Francesca warf die Arme in die Luft.
»Ich bin ein Läufer, Franni, ich brauche … Platz da unten.« ›Vielleicht war Freiheit das richtige Wort?‹ A zeigte beschämt auf ihre schmalen Hüften. Die vollbusige Schönheit aus Portugal bekam akute Schnappatmung, rauschte aus der Umkleidekabine und kam dann mit Boxershorts zurück, die sie wie Abfall in den Fingern hielt.
»Das gefällt mir nicht. Du hast so schöne Augen«, sie blickte an A herab und wieder hinauf. »Es gibt viele Männer, die mögen ... ähm, ganz besonders die schlanken Frauen.«
Anevay sah Francesca in die Augen. Diese schlug zerknirscht die schweren Wimpern nieder.
»Nein«, berichtigte A, »sie mögen es, wenn etwas schwächer ist als sie!« Anevay war jetzt fast einen Meter achtzig. Sie überragte Leonardo und so gut wie drei Viertel der Einwohner New Yorks, aber das half ihr auch nicht weiter, außer einen bösen Ruf aufzubauen. Mittlerweile nannte man sie den Feuerpfeil . Eine Anspielung auf ihre Geschwindigkeit und ihre Effizienz - auf die A aber sehr stolz war.
Ein neuer Name aber war das nicht.
In einer kleinen Buchhandlung erwarb sie ein Buch über den Nordischen Feuerbund .
Ein mächtiges Seevolk war es, schon seit tausenden von Jahren, das an die alten Götter glaubte, wobei A die neuen der Christen auch nicht ganz verstand. Asgard war ein Begriff aus ihrer Mythologie, der Ort, an dem die Götter wohnten, zwölf an der Zahl.
Doch sie konnte die anderen Worte aus dem Brief nicht vergessen, wollte es auch gar nicht.
›Wie war wohl sein wirklicher Name?‹ Jede Sekunde dachte sie an ihn. ›Es war ein Mann, oder? Ja, da war sie sich sicher.‹ Jede Nacht wollte sie diesen schönen Buchstaben etwas erwidern, aber sie schaffte es nicht. Sie tänzelte herum, schrieb, zerknüllte die Zeilen, übte Schönschrift, zerknüllte erneut. ›Doch wie lange wollte sie noch warten? Wie lange war der Brief unterwegs gewesen? Fünfzig Jahre? Ein paar Stunden? War der Verfasser bereits tot?‹ Anevay flüchtete sich in jede nur erdenkliche Möglichkeit, um eine Antwort aufzuschieben. Zumindest solange, bis sie sich dem Wunsch nicht länger gewachsen fühlte. Sie musste schreiben, die Wahrheit erzählen, doch durfte sie es nicht und hatte gleichzeitig Angst davor, die Gelegenheit dafür zu verpassen.
Eines Nachts tat sie es.
Sie schrieb zurück. Und sie hatte das Gefühl, sie müsse ehrlich sein, nur so könnte sie dem unbekannten Schreiber ehrenvoll das zurückgeben, was er verdient hatte.
Sie
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