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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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Luft zum Atmen fehlte auch. Die Stuhlreihen zu beiden Seiten des Sarges waren leer. Auf einem der Sitze hatte jemand eine Espressotasse mit bräunlichem Zuckersatz am Boden zurückgelassen. Ich stand alleine vor dem Kopfende, und zunächst schaffte ich es nur, Grazias gefaltete Hände zu betrachten, zwischen deren Finger ein Rosenkranz geschlungen war. Ihre schmalen, wohlgeformten Hände, um die ich sie immer beneidet hatte, lebten nicht mehr. Zögernd tasteten meine Augen sich über die weiße Spitzenbluse zu Grazias Gesicht hinauf. Sie sah so grau aus. Warum hatten die sie nicht wenigstens ein bisschen zurechtgemacht? Am liebsten hätte ich meinen Schminkbeutel geholt und ihr einen Hauch Rouge auf die Wangen gepinselt.
    Tu es doch, kommentierte Leonardo trocken. Er war mir keine große Hilfe.

    Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich konnte nicht für Grazia beten, ich konnte ihr nicht auf Leonardo-Art über die Haare streichen. Stattdessen schlug ich ein Kreuzzeichen und blickte mich unauffällig um.
    Noch nie war ich in Grazias Elternhaus gewesen, Matilde hatte ich immer nur irgendwo außerhalb der Wohnung treffen dürfen. Der Fernseher war ausgestellt und mit einem schwarzen Häkeldeckchen verhängt. Aus dem hinteren Teil der Wohnung kam Stimmengemurmel, und es schepperte in regelmäßigen Abständen laut. Ich stellte mir vor, jemand schaue hinter der Küchentür auf die Uhr und lasse jede Minute einen Topfdeckel fallen, aber wahrscheinlich waren sie nur alle in der Küche versammelt und begutachteten die mitgebrachten Speisen.
    Ich war auf Sizilien immer bloß ein Gast gewesen, eine neugierige Beobachterin, die nicht viel von dem begriff, was sie sah, doch mit sizilianischen Beerdigungen war ich vertraut. Nach Leonardos Tod hatte ich einen erzwungenen Intensivkurs durchlaufen müssen. Damals, als wir bei Mammas Cousine wohnten, war die Wohnung Tag und Nacht voller Frauen, die sich natürlich nicht an meine vor Kummer zusammengesunkene, nunmehr völlig verstummte Mutter wendeten, sondern an mich. Sie ließen mich die tausend Kleinigkeiten entscheiden, die zu entscheiden waren. Wollten wir Blumenkränze? Wollten wir »Blumen, die unvergänglich sind«, das hieß Geldgaben? Wollten wir eine Anzeige in der Zeitung oder viele Anzeigen an den Mauern von Bagheria?
    »Früher«, hatte eine von den Frauen erzählt, »früher hat man die Waisenkinder singen lassen, aus dem Waisenhaus, das war da, wo heute die Schule steht. Die stellten sich vor
der Kirche auf, in zwei Reihen, und sangen und klagten und bekamen dafür Geld. Requem eté doneiddó ...« Mit zittrig hoher Stimme sang sie einige unverständliche lateinische Worte und verzog ihre faltige Stirn, als ob sie grässliche Kopfschmerzen hätte. Ich war froh, dass keine Waisenkinder für Leonardo singen würden, und entschied mich für Sonnenblumen, die es aber im Mai noch nicht gab, wählte Ranunkeln, die es erst recht nicht gab, nahm dann irgendwelche rote Rosen, die von den Nachbarinnen als nicht männlich genug befunden wurden, die ich dann aber trotzdem bekam. Ich wünschte mir nur noch, es wäre vorbei, wünschte mich zurück nach Deutschland, wo ich auf meinem Bett in Ruhe weinen wollte. Meine Mutter und ich saßen im Nebel unserer Trauer und warteten, bis es endlich Zeit für die Feier in der Chiesa Madre wurde. Die Küche der Cousine meiner Mutter wurde mit jeder Menge Essen zugestellt, das niemand aß. Ù cùnsulo nannten die Nachbarinnen das. Sie trugen gefasste Gesichter zur Schau, kümmerten sich, waren wichtig, hatten etwas Nützliches zu erledigen. Manche brachten auch ein Päckchen Kaffee oder ein Pfund Zucker, Kekse oder sogar Geld. Es war ein Kommen und Gehen, dauernd klingelte es an der Tür, läutete das Telefon; Murmeln und Wispern; Unbekannte, die mir forschend ins Gesicht sahen, Namen nannten, die mir nichts sagten, und mir die Hand drückten.
    »Wer sind diese Frauen?«, fragte ich. »Sind das alles Nachbarinnen oder auch Verwandte von dir?« Doch Mamma tupfte sich nur die Augen mit einem fürchterlich parfümierten Taschentuch, das ihr irgendwer in die Hand gedrückt hatte, und zuckte die Schultern. Ich wollte raus aus der Wohnung, allein sein. Nach Matilde konnte ich die
Familie LaMacchia nicht fragen, ich wollte aber auch Grazia nicht sehen, die vermutlich im Haus ihrer Eltern in tiefe Depressionen abgetaucht war. Ich sehnte mich danach, am Meer entlangzugehen, meine Wut und alle Fragen in den stark wehenden Scirocco zu schreien, aber man

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