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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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Amen.«
    Grazias Brüder und drei weitere Männer hoben den Sarg auf ihre Schultern, wir erhoben uns von den Bänken, um ihnen zu folgen. Teresa zischte von der anderen Gangseite nach Matilde. Ich zwang mich, sie kurz anzuschauen, meine Augen trafen die ihren. O Dio, sie konnte so grimmig gucken.
    Hilf mir, Leonardo!, bat ich meinen Bruder.
    Kannst weggucken, das reicht schon, hörte ich ihn sagen. Lass Matilde bloß nicht zu ihr!
    Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir einen Hut mit schwarzem Schleier auf den Kopf. Ich senkte meinen Blick, aber nicht schnell genug, um ihn, der sich da mit gespielter Bescheidenheit in der letzten Reihe aufrichtete, nicht zu bemerken.
    Claudio Acquabollente! Er war blass, trug die Haare mit Gel geglättet und betonte damit seine große Nase und seine Kopfform. Der Mann, den ich irgendwann vor tausend Jahren einmal geliebt hatte und jetzt verachtete, der Mann, den
ich hier am allerwenigsten sehen wollte, erstaunte mich mit einer nie festgestellten Tatsache: Er hatte einen Eierkopf.
    Erneut hörte ich Teresa von der anderen Gangseite nach Matilde rufen. Doch ich nahm mein Patenkind nur noch fester bei der Hand, und so gingen wir dem Sarg mit kleinen Kinderschritten hinterher. Auf dem Sargdeckel zitterte ein Gesteck aus weißen Lilien und Anthurien, bei deren Anblick ich wie immer an die unansehnlichen Geschlechtsteile von männlichen Pavianen denken musste. Als ich an Claudio vorbeiging, machte er mir mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger ein Zeichen: Wir telefonieren! Vergiss es, Claudio, dachte ich und hob mein Kinn.
    In der überhitzten Kirche hatte ich vergessen, dass es draußen erst Mai war. Dankbar streckte ich meinen Kopf in die frische, klare Luft. Das Licht der Nachmittagssonne wurde von den Mauern der eng um die Kirche stehenden Häuser aufgenommen und in einem kräftigen Goldorange wieder abgestrahlt. Ich musste die Augen zusammenkneifen, und auch Matilde hielt sich beide Hände vor das Gesicht. Ein Brunnen ließ hinter hohen Gitterstäben mit gleichgültiger Munterkeit Wasser in eine riesige Marmorschale plätschern. Es klang frisch, nach Leben, Frühling und nahem Sommer und übertönte fast die Totenglocke, die irgendwo oben in ihrem Glockenturm, fern und nicht dazugehörig, vor sich hin läutete. Wie ein Haifischmaul ragte die Klappe des schwarzen Leichenwagens in die Luft. Sie hatten den Sarg schon hineingeschoben. Gleich ginge es im Schritttempo die ersten Meter zu Fuß in einem Trauerzug den Corso Butera hinunter. Danach würde man in die Autos steigen, die vorher auf einem Supermarktparkplatz abgestellt worden waren, um die restliche Strecke zum Friedhof zu fahren.
Matilde umklammerte zwei von meinen Fingern so fest, dass es mir wehtat. Sie ignorierte die ausgestreckten Hände der Großmutter und deren Ausrufe: »Komm, komm zur nonna!«
    Ich zog Matilde mit mir. Wir gingen durch einen Wald aus ghirlande, Blumenkränzen, die auf lange Stelzen geflochten waren. Schwarze und farbige Kostüme, weiße Hemdsärmel, schicke und weniger schicke Anzüge überschwemmten den Platz; sie stauten sich in großen Menschenklumpen, manche holten Sonnenbrillen und Handys heraus, fragten Nachrichten ab, zündeten sich gegenseitig Zigaretten an oder standen nur herum. Aber ihre Augen beobachteten uns heimlich, uns beide, die zwei Bellones, die noch übrig waren.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte mit Matilde nur einige Minuten auf einer der grünen Bänke sitzen, inmitten der alten Männer, die mit den Spazierstöcken zwischen ihren Beinen redend oder schweigend die Zeit verstreichen ließen. Ich zog sie zu einer leeren Bank. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie uns einige Personen folgten und eine Schlinge um uns zogen: Antonio, Domenico und Isidoro.
    »Bist du traurig?«, fragte ich Matilde, die mit der Handfläche fortwährend über die schmalen Holzbretter der Bank streichelte. Sie wollte mir nicht antworten, und sie wollte sich nicht setzen. Trotz des sackartigen Kleides, das bis zu ihren Fußknöcheln reichte, war sie so hübsch, dass es mir in der Brust wehtat. Ihre Augenbrauen hoben sich in einem perfekten Bogen, bis auf den kleinen, akkuraten Knick, den die rechte Braue zum Ende beschrieb. Den hatte sie schon bei ihrer Geburt gehabt. Ihr breiter Mund erinnerte mich an meinen eigenen und den von Leonardo. Ich nahm Matildes
Handundkonnte die dünnen Knöchelchen auf ihrem Handrücken fühlen.
    »Ich bin sehr traurig«, sagte ich. »Weißt du, was ich

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