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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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mache, wenn ich sehr traurig bin?«
    Matilde schüttelte den Kopf, ohne den Blick von der Bank zu heben.
    »Ich erzähle mir etwas über das, was mich traurig macht. Oder ich erzähle es jemandem, den ich gerne habe.«
    Ich gab vor, Grazias Brüder nicht zu sehen, die wiederum so taten, als ob sie nach irgendwem Ausschau hielten, und dabei näher rückten. Matildes Augen blickten mich ernst und dunkel an. Es sind Grazias Augen, ein bisschen schräg, ein wenig traurig, überlegte ich. Sie müsste in den Kindergarten gehen, sie sollte rennen, lachen, toben und mit anderen Kindern spielen dürfen. Stattdessen verkümmert sie bei ihren Großeltern vor dem Fernseher. Dio, wie soll ich sie da bloß rausbekommen?, wiederholte ich bestimmt zum hundertsten Mal, und meine Ratlosigkeit blies sich wie ein hässliches Gummitier auf und zerplatzte in meinem Kopf.
    »Ich habe dich so, so gern«, sagte Matilde in diesem Augenblick leise, »aber ich will nichts sagen.«
    »Vielleicht kannst du mir später etwas erzählen. Oder wir gehen ans Meer und erzählen uns gar nichts.«
    »Ja.« Sie lächelte kurz. »Wir sagen nie mehr etwas Trauriges, wir sagen gar nichts. Gar nichts über die, die nicht da sind.«
    Mein Hals wurde ganz eng. Hastig räusperte ich mich, doch das Gefühl, nicht schlucken zu können, hielt an. Meine Augen brannten, und ich merkte auf einmal, wie müde ich war. Ohne etwas zu sehen, starrte ich zwischen den herannahenden Hosenbeinen der Brüder hindurch. Dort hinter
dem Brunnen, wo der Corso Butera den Berg hinunterführte, ließen die Geschäftsleute ratternd ihre Metallrollos vor den Fenstern herunter. Für ein paar Minuten, solange der Trauerzug vorbeizog, schlossen sie ihre Läden, um Grazia und ihrer Familie die letzte Ehre zu erweisen.
    Ein Taxi hielt. Jemand stieg aus, er überragte den Taxifahrer neben sich um zwei Köpfe. Ich sprang auf, die Brüder schauten irritiert um sich. Dunkelblond, gut aussehend und ein bisschen unrasierter als noch vor drei Stunden in der Ankunftshalle des Flughafens Falcone & Borsellino stand er plötzlich da. Der Fotograf aus dem Flugzeug. Phil!
    Auch er hatte mich jetzt entdeckt und machte mir mit den Händen ein Zeichen. Ich habe Zeit, keine Eile, sollte das offenbar bedeuten. Ein entschuldigendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Es sah dennoch wichtig aus. Dringend.
    Warum fuhr er mir mit dem Taxi den ganzen Weg vom Flughafen bis nach Bagheria hinterher, immerhin fast fünfzig Kilometer?
    Seine Haare waren lockig, ein längerer Schopf hing ihm in die hohe Stirn, daneben schoben sich zwei kaum erkennbare Buchten unter die Haare. Das würden mal Geheimratsecken - auch damit sähe er sicher noch gut aus. Ich würde seine Haare gerne berühren...
    Bevor sich das Entsetzen über meine schlichten Gedankengänge in mir ausbreiten konnte, wurde mir ganz warm, und mein Herz galoppierte los. Egal, was ihn hier vor die Chiesa Madre in Bagheria geführt hatte, jetzt war er da. Und das war die Lösung. Ich würde ihn überreden können. Jemand, der verrückt genug war, sich Suppenteller zeigen zu lassen, aus denen ein kleines Mädchen gegessen hatte, würde mir helfen. Ich atmete tief ein und lächelte Matilde
zuversichtlich an. Und wie zur Bestätigung hellte sich ihr ernstes Gesichtchen plötzlich auf. »Guck mal: ein Fisch!« Sie zeigte auf eine Stelle in der Holzmaserung der Bank und ließ ein kleines, entzücktes Lachen hören.
    Gemächlich bezog die Trauergesellschaft hinter dem Leichenwagen Aufstellung, noch immer war ich von Antonio, Domenico und Isidoro umringt. Alle drei hatten leichte Hängebacken und einen identischen Unterbiss, der ihnen das Kinn vorschob. Der Älteste und Kleinste, Antonio, guckte mir gleichgültig von unten ins Gesicht, doch dieser Blick war genauso falsch wie die enormen Jacketkronen in seinem Mund. Ich beugte mich zu Matilde.
    »Ich komme wieder, ich komme ins Haus der nonna, und dann spielen wir mit deinen Tigern, gehen spazieren und erzählen uns etwas Trauriges oder etwas Lustiges oder nichts.« Und noch einmal, etwas leiser, das Ganze auf Deutsch, was die Mundwinkel der Brüder noch stärker zucken ließ als vorher. Leonardo hatte mit Matilde als Baby immer Deutsch geredet, sie hassten ihn dafür.
    Obwohl Matilde mein Deutsch nicht verstand, nickte sie ernsthaft, schlang mir die Arme um den Hals und gab mir einen knautschigen Kinderkuss auf den Mund. Dann ließ sie sich von nonna Teresa, die den Kreis ihrer wachsamen Söhne in dieser Sekunde wie

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