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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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dem Felsen verwachsen wäre.
    Endlich konnte ich den Koffergriff loslassen. Ich streifte den Riemen von der Schulter und stellte die Fototasche auf den rauen, mit dicken Kieseln durchsetzten Beton. Dann reckte ich mich und schaute auf die Uhr. Genau fünfzig Minuten hatte mein Fußmarsch von Bagheria gedauert. Ich kletterte über die Felsen seitlich um das Haus herum, bis meine Füße das Wasser fast berühren konnten.
    Das Meer hatte einige Dinge zwischen den Steinen angehäuft, Bretter, verknotete Seile, eine Yuccapalme, die mit nackten Wurzeln für immer unter einem Felsbrocken klemmte. Die Wellen klatschten gedämpft von unten dagegen und machten vertraute, glucksende Geräusche. Ich sah keinen einzigen der Krebse, die hier sonst hektisch und ziellos herumkrabbelten. Ich schaute nach oben. Drei Meter
über dem Meeresspiegel klebte der Balkon am Haus, gestützt von zwei dünnen Stelzen. Dunkelgrün glotzten die Fensterläden zu mir hinunter und machten mir Angst. Ich sollte da nicht hineingehen.
     
    »Ich möchte ihn noch bei mir haben«, hatte Grazia mich nach Leonardos Beerdigung angefleht. »Ich hebe alles auf, du kannst dir später holen, was du möchtest. Aber jetzt kann ich nichts von ihm weggeben, es riecht alles noch nach ihm!«
    Ich hatte mir eingeredet, dass Mamma Maria zu schwach wäre, um das Häuschen ihrer Kindheit und Jugend wiederzusehen, dabei war ich selbst erleichtert gewesen, die Räume nicht noch einmal betreten zu müssen. Ich war mit Mamma Maria geflohen. Wir waren zum Flughafen gefahren und mit der ersten Maschine nach Deutschland zurückgekehrt. Nur möglichst schnell heraus aus der sizilianischen Suppe des Klagens, der sonderbaren Bräuche, der befremdlichen Trauerfeierlichkeiten. Wir wollten alleine sein mit unserer Trauer und dem Entsetzen über das, was geschehen war, von dem wir ahnten, dass wir es für eine lange Zeit nicht begreifen würden. Wir ließen Tante Pias antike Möbel, Mamma Marias Vergangenheit und meine Erinnerungen zusammen mit Leonardos Klamotten, seinen Büchern und allen Schätzen, die er von seinen Reisen mitgebracht hatte, im Häuschen zurück.
     
    Ich kletterte von den Felsen wieder auf die Mole und betrachtete die Haustür, während meine Finger am Boden meiner Handtasche nach meinem Schlüsselbund suchten. Ich hatte den Schlüssel mit dem ledernen Bändchen und der
kleinen Glasmurmel daran nie davon entfernt. Und wenn jemand das Schloss ausgetauscht hatte? Aber wer sollte das schon tun? Es war immer noch Mammas Haus, mein Haus, und erst recht das von Matilde. Es gab nur eine Person, zu der eine solche Dreistigkeit passen würde: Teresa!
    Allein ihr Name machte mich wütend. Ich entschied, alles mit nach Deutschland zu nehmen, niemand sollte Leonardos Besitz an sich raffen. Ich hatte immer Angst davor gehabt, seine persönlichen Sachen wiederzusehen, aber nun wusste ich plötzlich, ich könnte es ertragen, wenn es in den Räumen des Häuschens noch genauso aussähe wie früher. Wenn die Tischhälfte von Zia Pina, der halbe mezzo tondo, und die vier Stühle mit den verschlissenen Sitzen aus Sisal noch in der Küche ständen. Wenn ihr altes Ehebett mich im obersten Stockwerk erwarten würde. Auf einmal freute ich mich und wurde ganz aufgeregt. Gleich würde ich die tönerne Amphora wiedersehen - sie stand direkt oben am Treppenabsatz. Man konnte seinen Kopf hineinstecken, so groß war sie, und noch das Aroma der Zitronenschalen riechen, die Zia Pina früher darin zum Gären gebracht hatte. Die bunten Stofftücher aus Martinique hingen vielleicht noch an den Wänden, neben Kerzenhaltern aus angerostetem, gebogenem Draht, die Leonardo aus dem Tessin mitgebracht hatte und die völlig mit Wachs bekleckert waren. Der uralte Besteckkasten von Zia Pina mit seinem Extrafach für die vielen verbogenen Zuckerlöffelchen aus angelaufenem Silber... Immer mehr Einzelheiten, an die ich jahrelang nicht gedacht hatte, schossen an die Oberfläche meines Gehirns, wie Korken, die man unter Wasser festgehalten hatte.
    Ich wollte in die Räume hineingehen, ich wollte alles wiedersehen,
befühlen, ich war bereit, die guten Erinnerungen zu genießen, die schlechten würde ich verscheuchen.
     
    Regen und Sonne hatten die Reklamezettel aufgeweicht, gebleicht und wieder getrocknet. Sie rollten sich in verschossenen Farben aus dem Briefkasten, bildeten eine feste Masse vor der Tür und wuchsen unter ihr hindurch. Ich trat auf den Teppich aus Papier und wischte mir unwillkürlich die

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