Das Limonenhaus
ich über zwei Stellen, von denen ich wusste, dass die alten Kacheln sich dort gelöst hatten, und schaute in das schummrige Zimmerchen, in dem ich damals gewohnt hatte. Der Rest des Hauses war leidlich trocken, so trocken, wie ein Haus am Meer eben sein kann. Doch in diesem Raum, der wie ein Erker oben in drei Meter Höhe aus dem Mauerwerk hervorsprang, glitzerten die Kristalle des Meerwassers an den Wänden.
Ich stieß den vom Salz zerfressenen Fensterladen auf. Hier drinnen hatte Grazia zunächst ihre Malutensilien gelagert,
an den Wänden hatte sie Regalbretter anbringen lassen. Abgeknickt, wie leblose Würmer hingen die roten Dübel nunmehr aus zahlreichen Bohrlöchern. Auf den Brettern hatte sie ihre Zeichenobjekte gehortet. Eigenwillig geformte Zweige, Steine, rostige Garderobenhaken, gläserne Türknäufe und -knöpfe, selbst getöpferte Vasen und Berge von Stoffresten. Wozu hatte sie die Stoffe eigentlich gebraucht? Gleich neben der Tür hatte die sperrige Staffelei gestanden, man kam kaum an ihr vorbei. Weiterhin gab es ein schmales, an die Wand geklapptes Bett für Gäste. Doch das Kämmerchen war zu feucht, die Bretter bogen sich, die Stoffe stockten und schimmelten, die Zeichenblöcke wellten sich und waren nicht mehr zu gebrauchen. Leonardo kaufte große Plastikkisten, so dass nichts von der schädlichen Meeresluft an Grazias Papiere, Stoffe und verderbliche Objekte gelangte.
Und dann hatte ich mich hier einquartiert. Endlich schien das, wonach ich mich immer gesehnt hatte, ganz nah: Ich nahm wieder an Leonardos Leben teil, ich war wieder mit meinem Zwillingsbruder zusammen. Ich wollte bleiben. Aber wie in aller Welt sollte ich das meinen Eltern beibringen? Drei Tage lang schleppte ich meine Angst wie einen Buckel mit mir herum. Was würde mein Vater sagen? Ich war doch sein kleines Mädchen, sein Stolz, seine Einzige. Am Tag vor meiner Abreise überwand ich schließlich meine Feigheit. Tatsächlich war es die von Grazia angestrebte Schwangerschaft, die mich in Köln anrufen ließ. Ich muss gestehen, ich gönnte Grazia dieses Sonderrecht nicht. Denn auch ich wollte endlich meine eigene Familie, und natürlich Kinder, denn ich liebte Kinder. Wie wäre es erst mit einem kleinen Ableger von mir, ein kleines Wesen, von mir geboren?
Als Jungfrau war ich zwar ziemlich im Verzug, doch nun hatte ich ja Claudio!
Ich nahm allen Mut zusammen. Es war morgens, Vater Salvatore war also vom Großmarkt zurück und trank gerade seinen Espresso in der Küche. Er nahm ab.
»Ich bin bei Leonardo«, begann ich, »und ich bleibe!« Ich legte auf. O Gott, was hatte ich getan? Ich rief noch einmal an, vielleicht war er ja gar nicht so wütend. Hatte er mir jemals etwas wirklich übel genommen?
Er nahm ab. Schweigen. Ganz ruhig sprach er dann den verdammenden Satz aus: »Santinella, hör gut zu. Wenn du auf Sizilien bleibst, bist du nicht mehr meine Tochter! Überleg es dir!«
Ich blendete die Geräusche der Spülmaschine und das Geschluchze meiner Mutter im Hintergrund aus und wisperte mit letzter Kraft: »Nein, Papa, ich bleibe!« Dann legte ich auf und spürte eine Kraft, als ob mich jemand sachte nach vorne schöbe: Für meinen Vater waren wir nun beide gestorben. Doch ich war endlich bei Leonardo.
Claudio wich in den nächsten Tagen nicht von meiner Seite, seine Sätze begannen und endeten mit »ti amo«. Nach einer Woche nahmen wir gemeinsam das Malzimmer in Beschlag. Die Staffelei zog ein Stockwerk höher in Grazias und Leonardos Schlafzimmer, wir legten eine breite Matratze über die Plastikkisten, die gerade eben zwischen die Wände passte. Ich war zweiundzwanzig, ich hatte das erste Mal in meinem Leben eine Entscheidung für mich getroffen und besiegelte diese, indem ich mit einem Mann schlief.
Gut. Prima Vergangenheit, und damit basta! Ich verbot mir, weiter zu denken, doch das war unmöglich. Genau hier hatte
die Matratze gelegen. Er hatte mich immer von oben bis unten abgeleckt, ich mochte das Gefühl nicht, das sein Speichel auf meiner Haut hinterließ, wagte aber nicht, ihm meine Abneigung zu gestehen. Ich mochte auch sein Stöhnen und Weinen nicht, in das er zum Ende hin ausbrach, wenn er mit mir schlief. Ich dagegen weinte nie vor Lust, hielt es aber dennoch für Liebe, was wir da miteinander taten. Denn ich kannte nur ein Ziel: noch schneller schwanger zu werden als Grazia. Jedes Mal, wenn ich Claudios streng nach Champignon und feuchter Erde riechenden Saft zwischen meinen Beinen heraussickern
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