Das Limonenhaus
nicht vorstellen, in was für eine Geschichte ich diesmal allen Ernstes hineingeraten bin. Lellas Winken unterbrach meine Gedanken. Der Fahrer des Wagens war ausgestiegen. Der Mann war Mitte fünfzig, er warf seine Zigarette auf die Fahrbahn und öffnete den Kofferraum, bevor er mir mit hängenden Armen dabei zusah, wie ich Lellas, Matildes und meinen Koffer in das andere Auto lud. Ich schob den defekten Wagen ein wenig näher an die Leitplanke und klaubte vor dem Verlassen noch Matildes Trinkflasche von der Rückbank. Dann übergab ich Lella den Schlüssel, schaute
kurz in ihre Augen. Gemeinsam stiegen wir ein. Es war alles ganz unkompliziert, und ich hatte mich noch nicht mal besonders anstrengen müssen. Ich hatte mich nur gerade entschieden, sie zu begleiten. Ein wahres Hochgefühl.
Das wahre Hochgefühl verflüchtigte sich bereits auf dem sauber gefegten Bahnsteig. Niemand wartete außer uns, wir hatten die tote Zeit zwischen den Zügen erwischt, alle anderen Menschen waren gerade abgefahren oder bereits angekommen und schon auf dem Weg nach Hause, zu einem ordentlichen Mittagessen. Pranzo. Eine absonderliche Sprache. Wir waren die Einzigen, die nicht vorwärts kamen, nicht vor, aber auch nicht zurück, wir verharrten an einem Punkt auf der Landkarte, zwischen Oleander und zwei Bänken aus unbequemen schwarzen Drahtkästchen. Auf die Pflastersteine des Bahnsteigs war eine gelbe Linie gemalt, die nicht übertreten werden sollte. Doch schon seit einer halben Stunde war kein Zug, vor dem man sich hätte in Acht nehmen müssen, an Gleis drei vorübergefahren.
»S. Stefano di Camastra«, las ich zum zehnten Mal auf dem Schild gegenüber, um den Namen dann doch gleich wieder zu vergessen. Brigidas schwarz umrandete Kleopatra-Augen schienen mich spöttisch aus der Deckung der Pfeiler und Bahnhofsmauern zu beobachten. »Was tust du da, Phil?«, hörte ich sie betont ruhig fragen. Ja, was tat ich hier? Ohne auch nur einen Augenblick nachgedacht zu haben, war ich hinter einer fremden Frau hergelaufen und gefährdete damit mein Leben mit Brigida! Lella beugte sich über den Korb, ich sah auf ihren schmalen Rücken hinunter, bemerkte die Rundung ihrer Hüften, den harmonischen Bogen ihrer Taille.
Bogen! Rundungen! Geflissentlich schaute ich den zwei Gleissträngen und den blendend weiß gefärbten Schotterstreifen nach, die sich an der Küste entlangzogen. Sizilien war ein gigantischer Brocken aus Stein, dessen Bergketten sich zusammen mit den Gleisen in der Ferne dunstig auflösten. Ein Seufzer entschlüpfte mir. Ich fuhr nicht gerne mit dem Zug. Wir hätten uns ein Auto mieten sollen, bei einer anständigen Autovermietung, aber es gab angeblich keine in diesem Ort. Wen wollten wir mit dem Ablenkungsmanöver täuschen - die übergewichtigen Bodyguards? Drei davon gab es, so viel wusste ich mittlerweile. Sie sahen sich ähnlich, waren die wesentlich älteren Brüder der verstorbenen Grazia und schon immer daran interessiert gewesen, das Leben der Schwester zu sabotieren. Sicher waren sie schon wieder umgekehrt, erst mal nach Hause gefahren, um ein ordentliches pranzo einzunehmen. Die Fahrt würde für uns jetzt jedenfalls doppelt so lang dauern.
Dem kleinen Mädchen schien das nichts auszumachen, es saß mit artig an den Knöcheln gekreuzten Beinen auf einer der beiden Bänke und biss in eine Teigtasche.
»Nimm eins von den arancini, die sind typisch sizilianisch«, lockte Lella mich und versuchte, mir einen Kloß zu reichen. »Die hier scheinen auch wirklich gut zu sein. Frisch frittierte Reisbällchen mit Fleischfüllung! Mmmh, sie riechen köstlich!«
Die Serviette, in die der Reisklops gewickelt war, hatte sich an den Rändern bereits fettig-orange gefärbt. Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich wollte nichts annehmen, um nicht danke sagen zu müssen. Ich hatte kein Verlangen mehr, zu dieser seltsamen Reisegruppe zu gehören, die ihre Spuren verwischen musste. Eine heftige Ungeduld zitterte
mit einem Mal in mir. Ich schaute erneut über den Bahnsteig, um vielleicht etwas zu entdecken, was ich Brigida mitbringen konnte, aber ich sah nur einen auf den Kopf gestellten Besen mit leuchtend grünen Kunststoffborsten, der an einer Mauer lehnte.
Brigida mochte Geschenke, aber keine Familien. Kinder waren lärmende, unverschämte Zwerge und kosteten nur Geld, das hatte sie einmal laut und deutlich gesagt, als wir an einem überfüllten Spielplatz vorbeigingen. »Ist doch wahr«, hatte sie weitergeredet, »schau dir zum
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