Das Limonenhaus
beabsichtigt. Zögernd setzte sich der Zug wieder in Bewegung, als überlegte er schon, an welcher Stelle er das nächste Mal wieder halten könnte.
»Guckt mal, wie schön«, rief Lella, und es klang, als ob sie in diesem Moment nicht nur Matilde ablenken wollte, sondern selbst verzaubert war von dem Anblick, der sich uns bot: Dicke, vollkommen rund geschliffene Felssteine breiteten sich in allen Farbschattierungen vor uns aus. Auf dem türkisblauen Wasser ankerte in einiger Entfernung ein erhabenes altes Segelschiff aus Holz. Kitschig, hätte Brigida gesagt. »Sehr schön«, brummte ich.
Matilde öffnete umständlich die Klettverschlüsse ihrer Turnschuhe, streifte sie ab und zog dann bedächtig, erst am rechten Fuß, dann am linken, die kurzen Socken glatt. Bucht und Boot waren längst verschwunden, bevor sie ihren Bären nahm und sich auf den Sitz stellte, um besser sehen zu können. Etwas an dem Bären erinnerte mich an eine traurige Katze, deren unvollkommen ausgestopfter, beuteliger Körper in diesem Moment gegen die Scheibe gedrückt wurde. Lella stand auf und hob behutsam die Baseballkappe von Matildes Kopf. Die langen Haare des Mädchens fielen über ihren Rücken, und Lella schnupperte an der Mütze wie ein Jagdhund, der Witterung aufnimmt.
»Puuh, was riecht hier denn so ekelig? Das ist mir schon gestern in der Chiesa Madre aufgefallen. Oder kommt das vielleicht von der Kappe?« Sie hielt mir die Kappe unter die Nase.
»Mamma era nella chiesa«, murmelte Matilde leise. Trübselig schlenkerte der Katzen-Bär mit seinen Beinen und seinem, wie ich erst jetzt bemerkte, einzigen Arm. Lella fuhr zusammen. Sie nickte: »Si, Mamma era nella chiesa.«
» Ora no.«
» No, non piu.«
Der Katzen-Bär schlenkerte nicht mehr.
Lella ließ sich auf ihren Sitz fallen und blickte mich bestürzt an, ich zuckte mit den Schultern, ich hatte nur Mamma und chiesa, Kirche, verstanden.
»Da fragt sie plötzlich nach ihrer Mutter. Seit zwei Jahren hat sie nicht mehr Mamma gesagt, sie hat das Wort einfach nicht mehr ausgesprochen.«
»Aha.«
»Was sage ich ihr denn, wenn sie weiterfragt?«
»Tja.« Ich würde mich von ihren großen, traurigen Augen nicht noch tiefer in diese verwickelte Familiengeschichte hineinziehen lassen.
»Grazia war in einem Heim, na ja, also Heim, Anstalt. Leonardos Tod hat sie in tiefe Depressionen gestürzt. Wahrscheinlich nicht nur das, sondern auch das Zusammensein mit ihrer Mutter. Jedenfalls war es furchtbar da drin.« Nur das Rattern des Zuges füllte das Abteil. Ich überlegte, ob ich etwas sagen sollte.
»Es war immer absolut bedrückend, wenn ich sie besuchte. Die ganze Stimmung da drin, ihre Traurigkeit, das alles schnürte mir die Luft ab. Mit nichts auf dieser Welt konnte ich sie trösten oder aufmuntern.«
Ich nickte stumm. Um ihren Augen nicht begegnen zu müssen, schaute ich aus dem Fenster.
»Das da ist auch schön!«, platzte ich hervor und zeigte auf die hässliche Industrieanlage, die vor dem Zugfenster auftauchte. Öliggraue Hallen und rostige Silos, hinter denen das Meer nicht mehr auszumachen war.
Lella sah mich an, als hätte sie etwas Bitteres im Mund, was sie nicht ausspucken durfte. Täuschte ich mich, oder sahen ihre Augen ganz wässrig aus? Ich guckte weg, dann wieder zu ihr und schnell wieder weg. Zum Weinen hatte
ich sie nicht bringen wollen. Was sollte ich jetzt tun? Brigida weinte nie, ich hatte sie zumindest noch nie dabei gesehen.
Lella schnaubte durch die Nase, schüttelte den Kopf und wandte sich Matilde zu. Sie öffnete den Mund, aber was immer sie auch hatte sagen wollen, war ihr offenbar entfallen.
»Riech bitte mal«, sagte sie mit gepresster Stimme und streckte erneut die Mütze zu mir herüber. Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich rieche nichts.« Gerade wollte ich noch »Tut mir leid« hinzufügen, da schleuderte Lella die Kappe schon auf das Polster.
»Cretino!«, explodierte sie. »Natürlich riechst du nichts, du siehst auch nichts, fühlst auch nichts, merkst nicht, wenn jemand traurig ist. Du bist aus Stein. Hau ab, steig aus, such dein Malfa alleine, wenn dir das alles hier auf die Nerven geht!«
Jetzt liefen ihr die Tränen die Wangen runter, sie wischte sie unwillig mit dem Ärmel ab und schniefte. »Ich muss nicht nach Salina, ich kann mich überall mit ihr verstecken. Keine Angst, wir sind bald wieder weg! Entschuldige, dass wir überhaupt in dein superschickes Fotografenleben gestolpert sind und dich mit unseren unwichtigen
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