Das Limonenhaus
braunen Seitendeckeln ein. Sie begleitete uns zu der Untersuchungsliege, die mitten im Raum auf dem grauen Linoleum stand und auf deren verknitterte Papierbahn ich mich nun setzte. Phil gab mir Matilde in die Arme und wechselte einen Blick mit mir. War dieses Wesen in dem Kittel wirklich eine Ärztin? Wenn sie von Medizin und Kindern keine Ahnung hätte, würde sie nicht so selbstbewusst schauen, beruhigte ich mich. Wahrscheinlich war sie nur müde, müde, aber kompetent.
Matilde war wach. Ich drückte sie an mich und strich über die schmalen Schultern des Kindes.
» Suo figlio? «
Ich schüttelte den Kopf, dies war nicht sein Sohn. Doch die Ärztin schaute nur zu Phil. Der nickte. Matilde griff an ihre Stirn, mit großer Vorsicht löste ich den Handtuchturban,
ihr langes Haar fiel herab. Ich nahm Matildes Hand und sagte: »Meine Nichte ist von einer Bank gefallen.«
Die Ärztin musterte Phil, der schweigsam neben zwei blauen Krücken in der Ecke stand, ließ sich ihre Verwunderung aber nicht anmerken. Sollten die Ausländer ihre Nichten doch als Söhne bezeichnen und anziehen, wie sie wollten, meinte ich in ihrem Blick lesen zu können.
»War sie bewusstlos?«
»Ja, ein paar Minuten.«
»Hat sie sich erbrochen?«
Ich bejahte erneut. Mit schnellen Bewegungen tastete die Ärztin Matildes Kopf und Körper ab. Sie entdeckte die Schwellung an der Schläfe. Matilde zuckte zurück, aber die Finger der Ärztin spannten sich um ihre Stirn, ihre Daumen drückten gnadenlos. Der Bär fiel von der Liege, blieb auf dem Boden liegen, seinen einzigen Arm anklagend emporgereckt.
»Das ist nur eine Beule«, sagte die Frau Doktor gelangweilt. Und dafür wird mein Tee jetzt kalt, setzten ihre Augen hinzu, die den Becher sehnsüchtig streiften. Ich fand sie doch nicht kompetent. Überhaupt nicht. Phil kam aus seiner Ecke, hob den Bären auf und setzte ihn neben Matilde. Ich räusperte mich, um damit die Tränen aus meiner Stimme zu verscheuchen: »Meine Nichte hat eine Wunde am Hinterkopf, die haben wir erst gerade entdeckt, sie scheint schon älter zu sein.«
»Drehen Sie sie mal!« Die Ärztin wühlte gleichgültig in Matildes langen Haaren, bis sie die Stelle fand. Ihre Augenbrauen hoben sich.
»Ein Abszess«, murmelte sie. »Eiter, Eiter, Eiter.«
Ohne aufzuschauen, tastete sie nach etwas, dann zog
sie von irgendwoher eine Schere hervor. »Müssen wir abschneiden.«
»Bitte, geht das nicht anders?«
Die Ärztin schüttelte den Kopf und begann, dicke Strähnen von Matildes Haar abzuschneiden. Das Geräusch jagte mir kalte Schauer den Rücken herunter. Ich hielt bei jeder weiteren Strähne die Luft an und schaute im Raum umher, um nicht auf Matildes Kopf blicken zu müssen. Über uns hing eine uralte runde OP-Lampe, auf einem Regal standen zwei metallene Kästen und ein Becher mit Holzspateln. Mehr war außer den blauen Krücken an medizinischer Ausrüstung nicht zu sehen. Auch Phil hatte sich abgewandt. Seine Schultern hochgezogen, starrte er aus dem Fenster in den endlos finsteren Himmel. Wie viel denn noch?, wollte ich rufen, als der weiche Haufen der lautlos gestorbenen Haare unter der Liege immer größer wurde. Es tat dieser Ärztin offenbar nicht im geringsten leid, eine klaffende Schneise, so breit wie Matildes fein gewölbter Hinterkopf, in die dunkle Haarfülle zu scheren! Sie wird schon wissen, was sie tut, versuchte ich mir einzureden. Was ist schon ein kahl geschorener Kopf, Hauptsache, sie hilft Matilde! Endlich hörte die Ärztin auf, streifte sich Latexhandschuhe über und holte einen orangefarbenen Einmalrasierer aus einer Papierverpackung. Mit groben Strichen entfernte sie die borstigen Stoppeln um die Wunde herum.
Matilde schien mit offenen Augen zu schlafen. Wie ein Lämmchen! Sie wehrte sich nicht, sie würde sich nie wehren.
Ich werde Matilde beibringen, wie man sich verteidigt, dachte ich, sie soll jammern, »nein« sagen, schreien, soll alles tun, was kleine Kinder normalerweise so machen.
Phil drehte sich von seinem Beobachtungsposten am Fenster zu mir herum.
»Frag sie bitte, was sie jetzt vorhat!«
»Che fa adesso?«
»Ja, che fa adesso?«, wiederholte Phil, und seine Stimme klang so gewaltbereit, dass die Ärztin sogleich begann, in gestochenem Hochitalienisch zu ihm zu sprechen:
»Ich säubere und desinfiziere die Wunde, die zum Glück nicht sehr tief ist. Aber sie kommen ziemlich spät. Noch ein paar Stunden, und wir hätten es mit einer Sepsis zu tun gehabt, und dann...« Sie
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