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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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er streifte sie von seinen sockenlosen Füßen und kickte sie achtlos zur Seite. Ich merkte, dass sich ein gewaltiger Tränenausbruch in mir hocharbeitete. Ich war unfähig, ich hatte ja noch nicht einmal gemerkt, dass Matilde Fieber hatte. Wegen ihrer Kopfwunde hatte ich erbrechen müssen, und jetzt würgte ich erneut. Wie hatte ich mir das bloß vorgestellt? Wie wollte ich denn ein Kind großziehen? Teresa würde uns für immer verfolgen lassen.
Antonio, Isidoro und Domenico hatten ›Kontakte‹, sie würden auf der ganzen Welt nach uns suchen, wir waren nirgends sicher. Nie mehr. Irgendwann würden sie uns aufspüren, und Matilde säße wieder bei Teresa im dunklen salotto vor dem Fernseher und ich im Gefängnis wegen Kindesentführung. Ich war wahnsinnig und hatte zudem ernsthaft geglaubt, dass Phil, der da mit dem keuchenden Matilde-Bündel im Arm auf dem Bett saß, sich als Belohnung auch noch in mich verlieben würde.
    »Schau nicht so, wir bekommen das hin«, unterbrach er jetzt mein dumpfes Brüten.
    Woher nahm er die Gewissheit? Aber Phil sah wieder aus wie heute Mittag auf der Autobahn, fast glücklich und voller Tatendrang. Draußen hupte es zweimal kurz.
    »Also los!«
     
    Im Auto hielt ich Matilde in eine Decke gehüllt auf dem Schoß, ihren Kopf hatten wir mit einem sauberen Handtuch umwickelt. Phil streichelte Matildes Arm, in den ich ihren Teddy gelegt hatte, und schaute dann in ihr regungsloses Gesicht.
    »Warum weint sie eigentlich nie?«, flüsterte er. Für das Flüstern und den zärtlichen Ton seiner Stimme hätte ich ihn umarmen können.
    »Sie war schon immer so... brav. Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie bei ihrer Oma, bei dieser furchtbaren Teresa, nichts durfte. Renne nicht ˿ du fällst! Tobe nicht ˿ du tust dir weh! Sei nicht laut ˿ das stört die Leute! Die hat ihr jegliches Aufmucken, Jammern und Meckern für immer abgewöhnt.«
    Am Haus des Doktors bedeutete Giuseppe uns mit einer
Handbewegung, sitzen zu bleiben. Er stieg aus, rannte die steinernen Stufen hinauf, klopfte an die Haustür und verschwand sogleich dahinter.
    » Andiamo al porto!«, rief er, als er eine halbe Minute später wieder ins Auto sprang.
    »Wir müssen zurück nach Milazzo«, übersetzte ich Giuseppes Redeschwall, »aufs Festland, da gibt es ein richtig großes Krankenhaus. Der Doktor ist drüben auf Panarea, sagt seine Frau, es hat keinen Zweck, auf ihn zu warten.« Ich sprach weiter auf Italienisch mit Giuseppe. Nur ab und zu, wenn ich fühlte, dass meine Verzweiflung überhandnahm, dolmetschte ich die wichtigsten Bruchstücke für Phil, damit er sich etwas ausdenken konnte, eine Lösung, eine Beruhigung, etwas, was meine Angst abschwächen würde.
    »Die Fähre. Hauptsache, das aliscafo geht noch, fährt noch!«, stotterte ich.
    Giuseppe schüttelte zweifelnd den Kopf. »Wenn die Wellen zu hoch sind, kommen die schnellen kleinen Tragflügelboote nicht mehr durch.« Ich biss auf meinem Handrücken herum, während ich Giuseppe zuhörte.
    »Die großen Fähren von Siremar schaffen die Wellen zwar, können aber nicht anlegen«, übersetzte ich für Phil.
    Wir fuhren nach Santa Marina Salina hinein. Noch vor einer Stunde hatten die Häuser einladend im abendlichen Sonnenschein gelegen, umgeben von grünen Bäumen, blühenden Sträuchern und wuchernden Farnen. Nun wurden die Bäume vom Wind geschüttelt, die Farne bogen sich und zeigten die helle Unterseite ihrer geriffelten Blätterschweife. Kein Mensch war auf der Straße. Giuseppe warf einen Blick auf die aufgewühlte See und neigte den Kopf von einer Schulter zur anderen.

    »Dann also zur Guardia Medica, heute fährt kein Schiff mehr«, sagte er. »Die äolischen Winde wechseln schnell und sind schlecht vorherzusagen.«
    Es war von einer Minute zur anderen dunkel geworden. Ein Lichtrechteck fiel auf die Stufen, als ich die Tür der Ambulanz öffnete, Phil stieg mit Matilde im Arm eilig hinter mir her. Wir traten ein, sahen von Neonröhren beleuchtete graue Stühle. »Hallo, ist hier jemand«, rief ich, klopfte an die einzig vorhandene Tür und riss sie auf. Eine junge Frau mit braunem Zopf und dünnen Armen, die nackt aus ihrem kurzärmeligen grünen Kittel hervorschauten, schrieb gerade etwas in eine riesige Kladde, so groß wie ein Tapeten- oder Teppichmusterbuch. Unwillig blickte sie zu uns auf. Die Tasse Tee neben ihr verströmte einen süßen Pfefferminzgeruch. Seufzend schlug sie das Buch zu und klemmte dabei ein Stethoskop zwischen den stabilen

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