Das Limonenhaus
tupfte eine beißend riechende, klare Flüssigkeit auf die Stelle. Matilde schien nichts davon zu merken. »Dann wäre daraus ein Wettlauf mit der Zeit geworden. Leben oder Tod, wie so oft hier in Sizilien. Schlagartig, ehe man sich’s versieht, ist alles Leben oder Tod. Sie gehen jahrelang nicht zum Arzt, und kurz vorher, wenn meistens ohnehin alles zu spät ist, schleppen sie einem die Sterbenden herein, und irgendwie soll man es dann wieder in Ordnung bringen.«
Mir tat die Ärztin plötzlich leid. Mit ihren dünnen Armen und dem Turiner Akzent kam sie mir vor wie ein Vogel, der hier in der kargen Notfallstation nach und nach all seine glänzenden Federn verloren hatte.
»Sie kommen nicht aus freien Stücken zu mir, niemand geht in die Ambulanz zu der Frau Doktor aus dem Norden, vom Kontinent, sagen sie. Niemand, es sei denn im äußersten Notfall. Und natürlich die Touristen, mit ihrem Durchfall und den Seeigelstacheln in den Füßen.«
Sie sah mich ärgerlich an: »Ich habe mir Salina bestimmt nicht freiwillig ausgesucht! Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist sehr schön hier, die Insel und die Natur. Aber es ist
gleich alles so schwer, so gewichtig, Leben und Tod. Die Leute sagen nicht viel, und wenn sie etwas sagen, meinen sie etwas ganz anderes.«
»Wir haben meine Nichte erst heute...«, befreit, wollte ich fast sagen, fuhr dann aber fort, »erst seit heute zu Besuch.«
»Bei wem war sie denn vorher? Das grenzt ja schon an Vernachlässigung, eigentlich sollte ich den Fall melden.«
»Könnten Sie vielleicht davon absehen?«, bat ich. »Sie war bei seinen Eltern«, ich zeigte mit dem Kopf auf Phil. »Die alten Leute sehen nicht mehr so gut. Und wir haben es ja noch rechtzeitig gemerkt.«
»Ach, sagen Sie«, jetzt beugte sie sich zu mir, und ihre Stimme wurde heiser, »ist er das wirklich? Oder verwechsele ich da jemanden, ich dachte allerdings, er wäre Engländer.«
»Das ist er auch, aber seine Mutter ist Deutsche, sie ist fast blind, die Arme.«
»Bei mir in der ambulanza ... das glaubt mir ja keiner!«, hauchte die Ärztin.
»Was sagt sie?«, wollte Phil wissen.
»Ach«, ich zuckte mit den Schultern, »sie hält dich für diesen coolen, englischen Schauspieler, du musst gleich mal ein Autogramm geben.« Phil nickte ernst, ich schaute ihn an, unsere Blicke trafen sich. Er lächelte kurz, und ich spürte, dass ich nicht mehr weinen würde, jedenfalls nicht in dieser dürftigen Notaufnahme.
Da begann Matilde zu schluchzen: »Mamma! Die Mamma soll da sein, meine Haare sollen auf dem Kopf bleiben. Ich will das nicht!«
Ein Loch tat sich in meiner Brust auf und wurde immer
größer. Kaum war Leonardos Tochter bei mir, hatte sie plötzlich einen kahlen Kopf und weinte, und ich, Lella, war schuld daran. Ich hatte Leonardos einziges Kind zu dieser frustrierten Ärztin gebracht. Immer wieder drückte ich Matilde an mich und streichelte ihr über die Schultern.
»Meine Mátti! Wir gehen bald, wir gehen bald in unser Haus, und dann schläfst du schön, du darfst auch in meinem Bett schlafen«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Das Gesicht der Ärztin war rot angelaufen. Sie kramte in den Metallkästen, lief hinaus, kam wieder und gab Matilde schließlich eine Tetanusspritze. In ein Formular trug sie ihren Namen ein, das ich unterschrieb. Niemand sprach. Matilde schluchzte leise.
Seit wann surrte die Neonröhre so bedrohlich? Wie lange rüttelte der Wind am Fenster? Seit wann dampfte der Tee schon nicht mehr?
Phil fing meinen Blick ein, erst jetzt merkte ich, dass er mit nackten Füßen auf dem Linoleum stand. Er schaute mir in die Augen, »was der Katzo auf seinem Motorroller kann, kann ich auch!«, sagte er leise. Um seinen Mund zuckte es. »Pazzo!«, grinste ich und verschluckte ein paar Tränen, »es heißt pazzo, verrückt!«
»Ich habe Antibiotika aufgeschrieben, die muss sie unbedingt alle acht Stunden einnehmen.« Die Ärztin reichte Phil ein Rezept und umarmte sich selig mit ihren eigenen dünnen Ärmchen. Sie winkte sogar zum Abschied. Im Hinausgehen sah ich, dass Phil den Namen des Schauspielers in gigantischen Lettern quer über den braunen Buchdeckel geschrieben hatte.
Wieder zurück im Haus legten wir Matilde vorsichtig auf die Seite und setzten uns rechts und links von ihr ans Kopfende
des breiten Bettes. Ab und zu trafen sich unsere Augen für einen Moment. Aus ihrem dicken Kopfverband ragten wie bei einer schlecht gewickelten Mumie noch ein paar kurze schwarze Haare. Ein paar
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