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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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hoch, Messer und Gabel verharrten abwartend in der Luft.
    Wer hatte ihr eigentlich diese feinen Tischmanieren beigebracht? Ich liebte es, wie sie das Besteck handhabte. Selbst im Liegestuhl benutzte sie immer Messer und Gabel.
    »Von meinem fehlenden Geruchssinn habe ich dir ja schon erzählt.« Lella nickte. »Im Alter von fünf Jahren wurde ich operiert, wegen Nasenpolypen. Seitdem kann ich hervorragend durch die Nase atmen, aber den Geruchssinn haben sie mir aus Versehen mit wegoperiert. Bei uns fuhr der Traktor oft mit dem Gülleanhänger über die Rübenfelder, und die Kinder in der Schule behaupteten, ich würde nach Jauche riechen. Ich fragte meine Mutter, ob das stimme, aber sie sagte nur: ›Lass dich nicht ärgern!‹ Ich lernte Das große Buch der Witze auswendig und wurde vom winzig kleinen Philip zum Witze-Philip. Auf dem Gymnasium in der
Stadt kam ich mit meinen Schlagfertigkeiten und Gags bei den anderen recht gut an. Irgendwann merkte ich allerdings, dass die anderen Jungen mir über den Kopf wuchsen. Sie bekamen Pickel und Haare auf der Oberlippe. Wenn meine Mutter nicht Kostüme absteckte oder an ihrer Nähmaschine saß, lag sie nach der Arbeit auf dem Sofa und schlief. Sie war in einem Atelier als Schneiderin angestellt, nähte aber abends auch noch für ihre eigenen Kunden. Oft hatte sie späte Anproben, jedenfalls war sie dauernd müde. Nie wagte ich es, sie zu wecken, um sie nach meinem fehlenden Bartwuchs zu befragen.«
    Lellas Gesicht blieb ernst. Ihre Augen waren verengt, konzentriert auf die meinen gerichtet. Wann wurde das dickliche Wesen auf dem Passfoto zu dem Mann, den ich hier vor mir sehe?, fragte sie sich wahrscheinlich.
    »Irgendwann müsse es doch auch bei mir so weit sein, redete ich mir zu, doch ich wuchs nur ein paar Zentimeter, bis ich ungefähr eins fünfzig maß. Immer noch hoffte ich auf Haare am Körper, meinen Stimmbruch und...« Sollte ich es aussprechen? Nein, sie stellte es sich wahrscheinlich sowieso schon in den prächtigsten Farben vor. »Nun, mein Körper reagierte einfach nicht. Meine Mitschüler machten blöde Bemerkungen über mich, den witzigen Zwerg, aber meine Mutter schien das nicht zu beunruhigen«, erzählte ich weiter. Mich war vierzehn und wurde mit einem ausgezeichneten Zeugnis in die neunte Klasse versetzt. Niemand hätte es geahnt, aber mittlerweile hasste ich die Schule, und meinen Witzen ging langsam die Luft aus. Sport war natürlich am schlimmsten. Unser Sportlehrer Herr Hassler, ›der Stier‹, nannten ihn alle, hatte einen Hygienetick. Er kontrollierte das Duschen nach der Stunde
persönlich und grinste über meine Badehose. Ein echter Pädagoge, der Typ.«
    Lella schüttelte den Kopf, sie ließ mich auch jetzt nicht aus den Augen.
    »Später lieh ich mir Bücher von Sartre und Camus aus der Bibliothek und jede Menge andere Philosophen. Doch auch sie konnten das Rätsel, das mir mein Körper aufgab, nicht lösen. Und ich kannte keinen Menschen auf dieser Welt, dem ich diese Blamage hätte anvertrauen wollen.« Lella nickte langsam.
    »Ich wurde sechzehn, selbst die letzten Langeweiler aus meiner Klasse verabredeten sich inzwischen für den Nachmittag mit Mädchen. Ich war nur das unterhaltsame Klassenmaskottchen, von mir wollten die Mädchen nur zum Lachen gebracht werden und die Hausaufgaben abschreiben. Also ging ich alleine ins Kino und sah mir alle Filme an, die ab sechzehn freigegeben waren. Jedes Mal ließ sich die Kassiererin meinen Ausweis zeigen. Was habe ich diese Frau gehasst!«
    Ich lachte und freute mich, als Lella diesmal ein bisschen mitlachte.
    Mich wechselte das Kino, wurde älter und las Gedichte. Ich konnte fast alle Gedichte von Jacques Prevert auswendig.«
    Lella schaute mich nicht an. »Was war mit deinem Vater?«
    »Er ist vor meiner Geburt an einer Blutkrankheit gestorben. Es stehen eine Menge Fotos von ihm bei uns herum, aber meine Mutter hat nie viel über ihn geredet.«
    »Haben sich deine Eltern geliebt?«, fragte sie leise.
    Mich vermute, sie haben sich sehr geliebt. Ich habe Briefe der beiden gefunden.«

    Lella schaute unvermittelt auf: »Briefe?«
    »Ja, einen ganzen Schuhkarton voll. Wenn meine Mutter zwischen mir und ihm hätte wählen können, hätte sie ihn genommen, da bin ich relativ sicher. Auf meinen Vater, Prost!« Ich hob mein Glas. Lella hob das ihre. Wir tranken.
    »Mit siebzehn war ich der glattgesichtige, bartlose Alleinunterhalter, den du auf dem Foto gesehen hast«, fuhr ich fort. »Den meisten

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