Das Limonenhaus
mehr nicht, keine Aufregung. Matilde war bei mir, wir waren sicher, sie erholte sich. Alles Weitere würde sich ergeben.
Ich drehte mich um und wollte gerade wieder hineingehen, da bemerkte ich einen Zettel an Phils Tür. Ich ging näher. Nie wieder würde ich sein Appartement betreten! »Noch mehr Fotos, wenn du willst...«, stand darauf. Sollte ich? Ich drückte die Klinke hinunter, die Tür war nicht abgeschlossen. Wie ein Einbrecher trat ich ein und schaute mich um.
Der Laptop war aus, die Fotos von Brigida waren verschwunden. Zwischen verkabelten Ladegeräten und schwarzen Filmdosen entdeckte ich ein Blatt Papier. Darauf lagen zwei Fotos, unter denen in Druckbuchstaben stand:
»Ich habe alle alten Fotos weggeschmissen, doch diese beiden haben sich versteckt.«
Das erste zeigte Phil. Er trug einen Mittelscheitel, die Haare hingen ihm wie zwei geschwungene Dekogardinen in die Stirn und endeten in einem langen Zopf. Sein Gesicht wirkte dadurch irgendwie verwischt und schläfrig. Er war plötzlich einer dieser Männer, die sich den ganzen Tag
mit Physik oder Maschinenbau beschäftigen. Auf der Straße wäre ich glatt an ihm vorbeigelaufen.
Das zweite Foto war ein verknicktes Passfoto. »Siebzehn« hatte er darunter auf das Blatt geschrieben und einen Pfeil dazu gemalt. Ich nahm es in die Hand.
»Phil«, flüsterte ich, »das bist doch nicht du!«
Seine Nase war zu einer Kleine-Jungen-Nase geschrumpft, das ganze Gesicht rund und hübsch, fast wie das eines Mädchens. Und doch waren Form der Augen und das Blau ihrer Iris unverwechselbar. Ich drehte das Bild in meinen Fingern. Wie jetzt, siebzehn? Sollte er zu diesem Zeitpunkt wirklich schon so alt gewesen sein? Unmöglich, er sah aus wie zehn. Volle Wangen, eine glatte Stirn, keine Spur eines Bartflaums zu sehen. Er wirkte traurig. Ich entdeckte seinen Reisepass auf dem Tisch und schlug ihn auf. Stumpf, ohne Lichtpunkte in seinen Augen, traf mich sein Blick von einem dieser neuen Fotos, auf denen man nicht mehr lachen darf und die Konturen so verschwimmen, dass jeder wie ein Verbrecher darauf aussieht.
Philip Eric Domin. Geboren in Warendorf. Lag das nicht irgendwo bei Münster? Am ersten Dezember dieses Jahres würde er neunundzwanzig, er war Schütze, wie ich. Nichts erinnerte heute mehr an den pummeligen Jungen mit den altklugen, melancholischen Augen. Ich legte alles wieder an seinen Platz und schlich über die Terrasse zurück.
»Wo ist denn eigentlich die Lella?«, hörte ich Matilde im Haus rufen.
Kapitel 19
PHIL
Der Wind hatte die Richtung gewechselt, er kam vom Meer und wehte heftig unter unsere Pergola. Wir aßen daher nicht in unseren Rattansesseln, mit den Tellern auf den Knien, sondern in der Küche am Tisch. Matilde lag nebenan quer über dem Bett und schlief. Aus Angst, sie zu wecken, hatte ich nur die Buntstifte unter ihrem Körper hervorgezogen und sie zugedeckt.
Vor uns stand eine große Schüssel agrodolce, das waren viele Zwiebeln und Auberginen, mit Zucker und Essig so raffiniert süß und sauer abgeschmeckt, dass es mir die Mundschleimhaut zusammenzog. Ich würde diese Speise sofort zu meinem neuen Lieblingsessen erklären, wenn Lella mich bloß fragte, aber sie fragte nicht, sondern räumte schweigend die Teller ab. Dann stellte sie die Pasta auf den Tisch: dicke Spaghetti mit Fischstücken. Ich konnte geröstete Pinienkerne erkennen, Korinthen und undefinierbares Grün. Ich aß, doch meine Aufmerksamkeit galt nicht den Nudeln auf meinem Teller. Nach zwei Gläsern Rotwein wollte ich unbedingt mit ihr reden. Vorher versuchte ich, Lellas Augen mit meinem Blick aufzufangen, doch sie wich mir aus.
»Du hast die Fotos gesehen?«
Lella schaute stumm auf ihre Gabel, dabei entstand in ihrem Gesicht eine feine Regung, die außer mir kein anderer Mensch bemerkt hätte. Sie war also drüben in meinem Appartement gewesen.
»Ich bin ein echtes Landei. Unser Haus war eingeschlossen von endlosen Rübenfeldern. Ich hatte den weitesten Schulweg und zu fast jeder Jahreszeit die schlammigsten Schuhe«, eröffnete ich. »Auf dem Passfoto war ich siebzehn und wusste nicht, was mit mir los war. In meiner Klasse hatten wir drei Philips. Den großen Philip, den kleinen Philip und den winzigkleinen Philip. Das war ich, ja genau.« Ich lachte. Lella guckte mir ganz ruhig in die Augen, sie lachte nicht mit.
»Verspätete Pubertät, pubertas tardis. Das ist gar nicht so selten. Mit meiner Anosmie hat das aber nichts zu tun.«
Lella sah von ihrem Teller
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