Das Luxemburg-Komplott
wusste, dass Dserschinski nicht schlief, sondern genau zuhörte. Lenin beugte sich ein Stück vor. »Sie berichten dem Genossen Dserschinski. Und der Genosse Feliks Edmundowitsch berichtet mir alles, was ihm wichtig erscheint.«
Dserschinski nickte. »Natürlich, Genosse Lenin«, sagte er. Er war hellwach.
Zacharias begriff, Lenin wollte möglichst viele verschiedene Berichte aus Deutschland haben, um nicht allein auf Radek angewiesen zu sein. Deutschland war für ihn das wichtigste Land der Welt.
»Gut, Genossen, ich danke Ihnen.« Lenin erhob sich. Er gab erst Dserschinski die Hand, dann Zacharias. Dessen Hand hielt er wieder etwas länger fest. Er zog ihn ein Stück zu sich und schaute ihm streng in die Augen. »Berichten Sie nur die Wahrheit, nur die Wahrheit«, sagte er eindringlich. »Es gibt so viele Lügen, und es gibt so viele Genossen, die wollen mir einen Gefallen tun, indem sie die Dinge in schönen Farben schildern. Die sollte man alle erschießen.« Er lächelte.
Dserschinski setzte Zacharias vor dem Hotel National ab. Am Eingang standen zwei Soldaten mit geschulterten Gewehren. Sie rauchten und schwatzten. Der eine schaute lange auf Zacharias’ Dienstausweis, wahr scheinlich konnte er nicht lesen. Er hatte ein Bauerngesicht, das ständig grinste. Dann gab er Zacharias den Ausweis endlich zurück und sagte: »Gut, Genosse.« Als er den Mund öffnete, sah Zacharias Zahnlücken und braune Zahnstummel.
Im Hoteleingang stank eine Tranlampe. Niemand war am Empfang, aber Zacharias hatte den Zimmerschlüssel in der Manteltasche. Als er sein Zimmer betrat, hörte er es röcheln. Er erschrak, dann fasste er an seine Pistolentasche und starrte in die Dunkelheit. Langsam sah er Umrisse. Auf seinem Bett lag einer, er schnarchte.
Das Hotel war voll belegt mit Funktionären, die in Moskau zu verhandeln hatten mit dem Exekutivkomitee des Sowjets, mit Regierungs- oder Parteistellen. Es geschah oft, dass die Hotelleitung Zimmer mehrfach belegte, weil sie nichts mehr frei hatte. Die Genossen sollten sehen, wie sie damit klarkamen. Zacharias fand unterm Bett eine Decke, breitete seinen Mantel auf dem Boden aus und legte seinen Kopf auf die Aktentasche. Führende Genossen hatten es besser, sie lebten hier in Suiten und mit Frauen, die einem offiziell abgeschafften Gewerbe nachgingen.
Der Mann in seinem Bett begann wieder zu röcheln und zu prusten. Aber nicht die Geräusche hinderten Zacharias zu schlafen, sondern der Nachklang seiner Begegnung mit Lenin. An dem kleinen Mann mit der Glatze und der kranken Gesichtsfarbe hing der Sowjetstaat. Ohne Lenin keine Revolution, und stürbe er jetzt, dann würde die Diktatur hinweggefegt binnen weniger Wochen. Es war ein Wunder, dass sie bis heute standgehalten hatte.
Gedanken lösten sich ab, ohne Sinn und Zusammenhang. So meldete sich die Erschöpfung. Doch dann kam die Erinnerung an Margarete. Wo mochte sie sein? Wie lebte sie? Hatte sie einen anderen geheiratet? Als er in den Krieg gezogen war, hatte sie versprochen, auf ihn zu warten. So, wie es alle Frauen allen Soldaten versprechen. Das Leben hält sich nicht an Versprechen.
*
Irgendwann wälzte er sich endlich in den Schlaf. Als er am Morgen aufwachte, war der Mann im Bett verschwunden, und die Knochen schmerzten. Er streckte sich und machte ein paar Kniebeugen. Dann wusch er sich und ging in den Essraum. Es gab hartes Brot, das nach Sägemehl schmeckte, und einen ranzigen Aufstrich, der ihn bitter aufstoßen ließ. Der Tee schien aus Rinde gebraut worden zu sein. Aber er wusste, für die meisten Menschen in Russland wäre dies ein Festmahl gewesen. Der Hunger war Feind Nummer eins der Revolution. Unter ihm litten nur die wichtigsten Funktionäre nicht. Die Führung durfte nicht hungern. Diese Funktionäre erhielten Versorgungspakete, und sie durften in eigens für sie eingerichteten Restaurants speisen.
An den anderen Tischen palaverten Funktionäre, die warteten, wie das Warten überhaupt zur Hauptbeschäftigung der Funktionäre geworden war, die aus der Provinz in die Hauptstadt kamen. Termine wurden nicht eingehalten, Besuchszeiten waren unverbindlich. Alle arbeiteten, bis sie umfielen vor Müdigkeit, aber oft ohne Plan und Organisation. Sie folgten Eingebungen, rasten in diese Fabrik oder in jene Versammlung, besänftigten empörte Arbeiter, beendeten Streiks und beruhigten verwirrte Kommunisten, die nicht mehr ein noch aus wussten. Eigentlich klappte so gut wie nichts, ausgenommen bei der Tscheka
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