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Das Luxemburg-Komplott

Das Luxemburg-Komplott

Titel: Das Luxemburg-Komplott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Ditfurth
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menschenverachtend. Sie befahlen jeden Tag Tausende in den Tod und fanden es herrlich, am Anfang jedenfalls. Vor Langemarck schickten sie Schüler und Studenten singend in die Maschinengewehrsalven des Feindes. Sie nannten es Heldentum. Und in der Heimat hungerten sich die Menschen ins Grab.
    Aber dann wich der Zorn, und Zacharias war nur noch traurig. Er rief sich das Bild des Vaters in Erinnerung. Seine Kollegen in den Tegeler Borsig-Werken achteten ihn und wählten ihn immer wieder als gewerkschaftlichen Vertrauensmann. Zacharias legte sein Gesicht in die Hände. Episoden mit dem Vater fielen ihm ein. Weihnachten vor vielen Jahren, eine Holzeisenbahn unterm Weihnachtsbaum, und der Vater spielte mit. Oder wenn Besuch kam, Arbeitskollegen des Vaters, die über Bebel sprachen und auf die Opportunisten schimpften. Eine Kanne Bier holen für den Vater. Einmal durfte der kleine Sebastian am Glas nippen, und gleich wurde ihm schlecht. Der Qualm der Sonntagszigarre, über den die Mutter jedes Mal schimpfte, woraufhin der Vater nur lächelte und genüsslich am Fehlfarbstumpen sog. Noch mehr Rauchwolken, noch mehr Gestank.
    Die Mutter hatte sich neben Zacharias’ Stuhl gestellt und strich ihm vorsichtig übers Haar. »Aber du lebst«, sagte sie. »Vater hat oft überlegt, wo du sein könntest. Und er hatte solche Angst, du könntest gefallen sein. Kaum einer hier ist ohne Gefallenen in der Familie. Es war schrecklich, als der Brief kam, du seist vermisst.«
    Er schaute der Mutter ins Gesicht. Sie war so alt geworden. »Und Renate?«
    »Die hat vorletztes Jahr geheiratet, den Günther Bäumer. Den kennst du doch noch, der wohnte hier im Viertel, in der Glogauer Straße. Eine Woche nach der Hochzeit hat sie den Brief bekommen. Gefallen an der Westfront. Sie ist fast verrückt geworden. Hat viele Tage nur geweint und nicht gesprochen. Man konnte zuschauen, wie sie verfiel. Ein halbes Jahr später ist sie gestorben, Lungenentzündung. Sie war völlig entkräftet und ohne Hoffnung. Da hatte die Entzündung leichtes Spiel. Vielleicht tröstet es dich, sie hat es so gewollt. Davon bin ich überzeugt.« Die Stimme der Mutter klang rau. Sie räusperte sich. Dann legte sie ihm die Hand auf die Schulter und wiederholte: »Aber du lebst.«
    Er schaute sich um in der Küche, ohne etwas zu sehen. Ich hätte in Russland bleiben sollen. Der Gedanke schien auf, dann sah er wieder die Bilder der Menschen, die er getötet hatte, und der Gedanke verschwand. Er war nicht vorbereitet gewesen auf das Elend zu Hause. Er hatte immer noch die Bilder einer Vergangenheit im Kopf, die ihm nun unwirklich vorkam.
    »Sebastian, ich koche uns einen Kaffee, und ein Stück Brot habe ich auch, oder was man heute Brot nennt.« Ihr Ton ließ keinen Widerspruch zu. Während die Mutter Feuer im Ofen entzündete, versuchte Zacharias zu begreifen, was sie ihm erzählt hatte. Es war blauäugig, zu glauben, der Krieg würde ausgerechnet seine Familie nicht zerstören, wo er doch Millionen von Familien in allen kriegführenden Ländern zerstört hatte. Millionen Ehemänner, Verlobte, Freunde, Brüder waren erschossen, zerquetscht, zersprengt, erstochen worden. In der Heimat waren sie an Hunger, Diphtherie, Tuberkulose, Grippe gestorben.
    Die Mutter schloss die Ofenklappe, es roch nach Papierrauch. Sie nahm vom Brett an der Wand eine Blechdose und gab etwas daraus in eine Kanne. Dann füllte sie den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. »Zichorie«, sagte sie, als müsste sie sich entschuldigen.
    Zacharias hatte die Frage nach Margarete auf der Zunge, aber er traute sich nicht. Wenn sie auch tot war? Aber dann fragte er doch: »Und Margarete, lebt sie noch?«
    »Ich glaube schon, aber sicher bin ich nicht. Als keine Briefe mehr von dir kamen, ist sie anfangs oft hier gewesen und hat nach dir gefragt. Wir wussten ja auch nichts.« Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Irgendwann blieb sie weg. Ich kann es verstehen. Wir mussten sie immer enttäuschen.«
    Als der Ersatzkaffee fertig war, saßen sie schweigend am Tisch. Er war versunken in Erinnerungen. Wann hatte er den Vater zum letzten Mal gesehen? Am Morgen seiner Einberufung. »Jetzt, wo du zu Kaisers gehst, bin ich beruhigt, die Russen werden nicht in Berlin einmarschieren.« Es war ein Scherz. Der Vater hatte ihn lange angeschaut und ihn dann kurz in den Arm genommen. Das hatte er noch nie getan. In seinen Augen hatte es geglänzt, und als er zur Arbeit ging, schlug er die Tür lauter zu als

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