Das Luxemburg-Komplott
wenn nicht, warum sollte sie auf ihn warten? Vermisst war doch so gut wie tot. Irgendwann kamen die Tränen. Er beschimpfte sich. Dummer Junge, der glaubt, zu Hause habe sich nichts verändert, während die Welt zertrümmert war.
Am nächsten Morgen stand er früh auf. Die Mutter war schon in der Küche, es war warm. Zacharias ahnte, sie verschwendete ihre Holzvorräte, um ihm eine Freude zu machen. Er rieb sich die Augen, sie brannten. Sie redeten nicht viel, tranken Ersatzkaffee und aßen ein Stück Brot, das nach Kleie schmeckte. In Russland war es noch schlechter, dachte Zacharias. Da schmeckte es nach Sägemehl.
»Ich muss jetzt los«, sagte Mutter. »Arbeiten.« Sie schlurfte zur Tür. »Ach, ich vergesse es immer wieder«, sagte sie und kehrte noch einmal um. An der Wand hing ein kleiner Kalender. Sie riss das Blatt ab, so, wie sie es früher jeden Morgen getan hatte. Das Blatt mit dem 22. Januar 1919 warf sie in den Herd.
Später fragte er sich, warum es ihn verletzte, dass sie arbeitete. Er war es nicht gewohnt. Er sagte: »Gut, dass du eine Arbeit hast.« Es kam ihm vor wie eine Lüge.
»Putzen«, sagte sie. »Zwei Stellen, trotzdem reicht es nicht.«
Der Krieg hatte die Mutter zur Putzfrau gemacht. Es demütigte ihn. Er schalt sich einen Dummkopf. Das ist ein Beruf wie jeder andere. Man arbeitet und erhält Geld.
Als die Mutter gegangen war, saß er noch lang auf dem Stuhl und schaute zum Fenster hinaus. Ein paar Fußgänger. Selten ein Automobil, hin und wieder Pferdegespanne. Er ging ins Wohnzimmer. In der Vitrine Bücher, darunter Bebels Die Frau und der Sozialismus. Er nahm es heraus und blätterte. Der Vater hatte eini ges angestrichen darin. Er las ein paar Sätze, es kam ihm vor wie ein Text aus ferner Zeit. Zacharias stellte das Buch zurück ins Regal. Auf einer Kommode neben dem Fens ter standen immer noch die Bilder. Die vom Vater und von Renate trugen ein schwarzes Band. Zacharias überlegte, ob er die Bänder abnehmen sollte, aber er ließ es. Er betrachtete den Vater. Das Bild war einige Jahre vor dem Krieg aufgenommen worden. Der Vater lächelte in die Kamera. Er trug einen Anzug mit Schlips. Renate war noch jung, sie hatte ihr Haar zu Zöpfen ge flochten. Ihre Augen schienen zu leuchten. Sie war meist fröhlich und gerne vorlaut, aber niemand hatte es ihr übel genommen.
Zacharias setzte sich aufs Sofa und begann zu weinen. Er saß lange. Und dann meldete sich der Hass auf die, die den Krieg angezettelt, und auf die, die den Kaiser und seine Generale unterstützt hatten. Ebert, Scheidemann und all die anderen, sie trugen eine Mitschuld am Elend von Millionen Familien in Deutschland und anderswo. Sie haben den Krieg angefangen, und sie hätten wenigstens aufhören und auf die irrwitzigen Eroberungspläne verzichten können. Sie haben Verteidigung gesagt und Eroberung gemeint. Von Anfang an. Und jetzt sitzen des Kaisers Helfer in der Regierung, hetzen die Soldateska auf die Arbeiter und reden vom Sozialismus. Deine Trauer ist der Hass, dachte Zacharias. Trauer richtet sich an die Vergangenheit, die kann man nicht ändern. Hass aber richtet sich auf heute und morgen.
Er trocknete die Tränen mit dem Taschentuch und öffnete die obere Kommodenschublade. Darin sah er die Zigarrenschachtel des Vaters. Er nahm sie heraus und öffnete sie. Die Fehlfarbzigarren waren ausgetrocknet. Er stellte die Schachtel zurück in die Schublade und schloss sie.
Zacharias lief im Zimmer umher, betrachtete weiter Bilder und Buchrücken. Ich muss Margarete finden, dachte er. Aber immer wieder kehrten die Worte der Mutter zurück in sein Gedächtnis. Margarete war nicht mehr gekommen. Er hatte ihr nicht geschrieben, die Briefe wären nicht angekommen. Ich muss Margarete finden. Aber mit dem Vorsatz wuchs die Furcht, sie sei auch tot oder habe einen anderen. Wäre doch nur natürlich, Zacharias galt als so gut wie tot. Und treu war er auch nicht gewesen. Er dachte an Jelena, die er in Engels kennengelernt hatte. Die Lehrerin mit den blonden Locken, die ihn nicht mehr sehen wollte, als die Tscheka ihren Onkel erschossen hatte. Zacharias wusste nicht mehr, was dem Onkel vorgeworfen worden war. Es waren Revolution und Bürgerkrieg, aber Jelena, die Lenin verehrte, begann die Tscheka zu hassen. Und daran änderte sich nichts, als Zacharias ihr sagte, Lenin habe die Tscheka gegründet und sie handele nach seinen Befehlen. Erschießen, erschießen, erschießen. Soundso viel Prozent der Bewohner eines Dorfes. Die
Weitere Kostenlose Bücher