Das Maedchen am Klavier
wie durch ein Wunder ruckzuck aufgetaut sein.
Als sich nach einer halben Woche noch immer nichts geändert hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich in sein Geschick zu fügen. Er beschloss aber, wenn er schon einmal unterwegs war, doch lieber vorher noch Clara in Dresden zu besuchen. Die Trauer über den Tod seiner Mutter hatte die Sehnsucht nach seiner fernen Liebsten erhöht. Als er dann noch erfuhr, dass Friedrich Wieck geschäftlich nach Leipzig kommen würde und Clara somit unbeobachtet in Dresden zurückblieb, gab es für ihn kein Halten mehr.
Für das Begräbnis war es ohnedies zu spät, und auch die ersten Tage danach in der Familie würden fast unerträglich für ihn sein. Fast glaubte er, den erstickenden Rauch der Kerzen zu atmen, das leise Schluchzen seiner Geschwister zu hören und die versteckte Bosheit zu spüren, wenn sie über die bevorstehende Testamentseröffnung sprachen, die ein jeder mit vielen Hoffnungen verband und zugleich auch mit der bohrenden Sorge, zu kurz zu kommen. Nein, ein Sterbehaus war nichts für einen sensiblen Romantiker wie Robert Schumann, der schon jedem Krankenbesuch aus dem Weg ging, auch wenn ihm die Rolle eines Wohltäters, den alle verehrten, durchaus angenehm gewesen wäre. Der wahre Geruch von Siechtum und Tod war jedoch zu viel für ihn. Er hätte es nicht einmal ausgehalten, in der Nähe eines Hospitals zu wohnen. Als man ihm einst in Heidelberg eine Wohnung in Sichtweite einer Irrenanstalt angeboten hatte, war er wortlos geflohen.Friedrich Wieck war es nicht gewohnt, Risiken einzugehen und den Gang der Dinge dem Zufall zu überlassen. So hatte er dafür gesorgt, dass Clara während seiner Abwesenheit ununterbrochen beschäftigt war und unter Beobachtung stand. Zusätzlich hatte er Nanni aufgetragen, Clara ebenfalls nicht aus den Augen zu lassen und ihm später genau über jeden eventuellen Schritt vom Wege zu berichten. Er war überzeugt, das junge Mädchen genügend eingeschüchtert zu haben, und rechnete nicht damit, dass Nanni nicht im Traum daran dachte, die fast gleichaltrige Clara an den alten Wüterich zu verraten. Von ihr würde Friedrich Wieck nichts erfahren, dessen konnte Clara sicher sein, als Robert Schumann eines Morgens um neun Uhr vor der Türe stand und sie wie ein Ertrinkender in die Arme riss.
»Vier himmlische Stunden«, notierte er danach in sein Tagebuch, während Clara in dem ihren vorsichtshalber über anstrengende Übungen am Klavier berichtete.
Das Mittagessen bei einer befreundeten Familie Becker, das Friedrich Wieck für Clara vorgeplant hatte, konnte nicht übergangen werden, doch schon nachmittags um vier lief Clara ihrem Robert auf der Brühl’schen Terrasse entgegen und umarmte ihn mitten unter den vielen Menschen, die trotz der Kälte und des schneidenden Windes unterwegs waren.
Für die Freiheit des Abends stand Sophie Kaskell bereit und setzte sich mit dichtem Gesichtsschleier und Claras Federboa auf deren Platz im Theater. Sollte sich Friedrich Wieck später erkundigen, würde man ihm fast schon unter Eid versichern, Clara gesehen zu haben: züchtig gekleidet und unansprechbar, wie es sich für eine anständige junge Dame gehörte, die ausnahmsweise einmal abends allein ausging, weil sie eine Künstlerin war und sich als solche über aktuelle kulturelle Ereignisse informieren musste.
Drei Tage in Dresden! Glückliche Tage, in denen sie einander näher kennenlernten als in den vielen Jahren davor. Beschämt offenbarte Robert Schumann seinen Abscheu vor Krankheit und Tod. Er gestand Clara sogar, dass ihm seine Reise zu ErnestinesFamilie auch deshalb besonders gelegen gekommen war, weil sein Mitbewohner und Freund Schuncke damals schwer erkrankte. »Es war die Lunge«, erzählte Robert Schumann und senkte den Kopf. »Ich wusste, dass er vielleicht sterben würde, und ließ ihn trotzdem allein. Hätte sich Henriette Voigt nicht um ihn gekümmert, hätte er überhaupt niemanden gehabt.« Er schwieg lange, weil er nicht zu sagen wagte, dass sich Henriette bei der Pflege des Sterbenden angesteckt hatte, auch sie nun krank für immer. »Ich möchte so gerne ein guter Mensch sein«, murmelte er, und Clara verstand, dass er meinte, dafür sei er wohl zu schwach.
Sie streichelte ihm übers Haar. In diesen Tagen liebte sie ihn so sehr, dass sie ihm jede Unterlassung und jede Schandtat vergeben hätte. Sie sah nur sein Gesicht, das ihr vertraut war, hörte seine leise, unsichere Stimme und alles, was er sagte, schien ihr
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