Das Maedchen am Klavier
verzeihlich. Sie war sicher, dass er sich ihr ohne Rückhalt offenbart hatte. Kein Geheimnis sei ihm geblieben, versicherte er. Niemandem auf der Welt könne sie so bedingungslos vertrauen wie ihm.
»Und dieses Mädchen?«, fragte Clara und kam sich dabei gemein und grausam vor. »Diese Christel?« Wie blass sie gewesen war, als sie in Glocks ärmlichem Zimmer gestanden war, ein Glas mit einem goldgelben Getränk in der Hand und trotz ihrer einfachen Kleidung irgendwie lässig und elegant!
Robert Schumann schwieg so lange, dass Clara schon meinte, er wolle ihr nicht antworten. »Eine Jugendsünde«, sagte er dann, und seine Stimme war so heiser, dass man ihn kaum verstehen konnte. »Eine Jugendsünde.« Da nickte Clara. Die Antwort genügte ihr. Eigentlich hätte ihr jede Antwort genügt, so sehr liebte sie ihn in diesen Tagen.
4
Nach drei Tagen reiste Robert Schumann ab. Es war noch dunkel, als ihn Clara zur Poststation begleitete. Schon auf dem Weg dorthin fing es an zu schneien, so heftig, dass die Flocken innerhalbweniger Minuten wie ein dichtes Netz alles bedeckten. Man konnte kaum sprechen, weil sie sich auch über Mund und Nase legten und den Atem behinderten.
Clara blieb stehen. »Ist es nicht zu gefährlich, bei diesem Wetter zu reisen?«, wandte sie ein. Dann aber setzte sie ihren Weg fort, weil Robert Schumann wortlos den Arm um ihre Schultern legte und sie weiterschob.
Der Warteraum der Poststation war voller Menschen. Manche hielten sich anscheinend schon seit Stunden hier auf. Übernächtigt lungerten sie auf den Bänken, das Gepäck zwischen den Knien. Manche schliefen, den Kopf irgendwo angelehnt und ohne Rücksicht auf den Anblick, den sie boten. Als Clara und Robert eintraten, brachten sie eine kalte Bö in den Raum mit und eine Wolke von dichtem Schneegestöber. »Tür zu!«, rief jemand aufgebracht und die beiden gehorchten erschrocken.
Nach der Kälte draußen kam es ihnen hier drinnen fast unerträglich warm vor. In einer Ecke glühte ein Eisenofen, und die vielen Menschen trugen das Ihre dazu bei, dass Clara meinte, ersticken zu müssen.
Man sagte ihnen, die Abfahrt des Postschlittens werde sich wohl noch um mindestens zwei Stunden verzögern. Wegen der Sichtbeschränkung müsse man darauf warten, dass es hell wurde und zu schneien aufhörte.
Robert Schumann wollte nicht, dass Clara bei ihm blieb, doch sie bestand darauf. Sie fanden einen schmalen Eckplatz, der noch frei war. Dorthin setzten sie sich, ganz eng aneinandergedrückt und ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Als sich Clara später erinnern wollte, wer auf der anderen Seite neben ihr gesessen war, wusste sie es nicht.
Lange schwiegen sie. Dann fing Robert Schumann plötzlich an zu reden, leise, um nur von Clara verstanden zu werden, doch hastig und voller Sorge, nicht alles vorbringen zu können, was ihm am Herzen lag und was plötzlich aus ihm herausströmte, als würde er sonst ersticken. Wenn er wieder in Leipzig sei, wolle er mit ihrem Vater sprechen, kündigte er an. »Vorher werde ich allemeine äußeren Angelegenheiten regeln. Das Erbe meiner Mutter wird mir dabei zugutekommen.« Er barg sein Gesicht an Claras Schulter und redete weiter, immer weiter, wie es sonst wahrlich nicht seine Art war. »Ich werde deinen Vater um seinen Segen bitten«, flüsterte er. »Keine Angst, Clärchen, er kann seine Hand nicht von mir zurückziehen. Auch wenn er jetzt meint, ich würde dir schaden, so hat es doch eine Zeit gegeben, in der er für mich wie ein Vater war. Er muss sich wieder daran erinnern und er muss verstehen, dass uns das Schicksal füreinander bestimmt hat.« Er nahm Claras Gesicht zwischen seine beiden Hände. »Daran glaubst du doch auch, oder nicht?«
Clara nickte. Es kam ihr vor, als wäre eine Last von ihr abgefallen. Robert Schumanns Überzeugung schenkte auch ihr Sicherheit. Sie lehnten sich aneinander und schlossen die Augen. Sie wussten nicht, wie lange sie so gesessen waren, doch dann wurde plötzlich die Tür aufgestoßen und der Postillion trampelte herein. »Aufstehen, Herrschaften!«, rief er und verbreitete eine Wolke von Schnapsgeruch. »Der Morgen ist angebrochen und die Pferde warten. Es geht los. Wir fahren ab.«
Alle sprangen auf und eilten mit unsicheren Schritten hinaus in den stahlgrauen Morgen. Der Postillion verstaute das Gepäck, und die Passagiere stiegen ein. »Bleib da, Robert!«, flehte Clara. »Geh nicht fort!« In der beißenden Kälte des Morgens ging ihr der Glaube an die Zukunft
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