Das Maedchen am Klavier
Unbefleckt wie eine kleine Nonne sollte sie mit ihm vor den Altar treten. Eine Heilige, auch wenn ihm ihre Leidenschaft schmeichelte. »Wir müssen uns beherrschen«, hatte er zu ihr gesagt, als sie ihn vorsichtig daran erinnerte, dass ihr Vater fern war und dass Nanni gewiss nichts verraten würde. »Ich muss fort, obwohles mir das Herz zerreißt«, hatte er geantwortet und war mitten in der Nacht zurückgegangen ins »Kleine Rauchhaus« in der Nähe des Altmarkts, wo er logierte.
Manchmal war sie sogar ärgerlich auf ihn gewesen, enttäuscht über seine Zurückhaltung. Von Kindheit an hatte sie manches von dem mitbekommen, was sich unter Erwachsenen abspielte, und sie wünschte sich, nicht nur angebetet zu werden, sondern auch leidenschaftlich begehrt. An Camilla Moke erinnerte sie sich, einst ein Wunderkind wie sie selbst, der man wilde Affären nachsagte und für die der Komponist Berlioz sein Leben hinwerfen wollte. Wie würde eine wie sie sich verhalten, wenn sie einem Mann wie Robert Schumann begegnete, der von Reinheit sprach und von Verzicht? Und wie – mein Gott, wie? – passte in dieses Bild der schamlose Hurenbock, von dem ihr Vater sprach? Ja, genau dieses Wort hatte er benutzt, und Clara schämte sich, es aus seinem Munde zu hören. Wie passten dazu die Sonnenjünglinge und »das Eine«? Immer nur »das Eine«, das für Clara das Schlimmste von allem war, weil sie sich nichts darunter vorstellen konnte.
Anderthalb Jahre trafen sie einander nicht wieder. »Ach Mila, ich bin ein gepanzertes Mädchen!«, antwortete Clara ihrer Freundin Emilie in Paris, als diese in ihren Briefen immer wieder fragte, wie sie es denn ertragen könne, geliebt zu haben und danach einfach ihr früheres Leben wieder aufzunehmen. Ein Leben unterwegs, ein Konzert nach dem anderen, zwanzig große Auftritte allein in Breslau, wo man sie bravourös nannte, brillant, mitreißender sogar noch als der große Paganini. Fünf Komponisten der Stadt taten sich zusammen, um Clara zu ehren, und produzierten eine »Hommage à Clara Wieck«, die im Handumdrehen gedruckt wurde.
Erfolge en suite. Friedrich Wieck konnte zufrieden sein mit seiner jungen Pianistin. Er kaufte ihr schöne Kleider, damit man sie noch mehr bewunderte, und er lud sogar den mausgrauen Carl Banck ein, sie für ein paar Wochen auf der Tournee zu begleiten.Gesangsunterricht sollte er Clara erteilen, denn zu singen, das wusste Friedrich Wieck, verjagte trübe Stimmungen.
Carl Banck kam nur zu gern und er nahm auch sofort seine amourösen Versuche wieder auf. Früher hatte Clara die Hand weggezogen, wenn er nach ihr griff. Jetzt erlaubte sie ihm sogar, sie zu küssen. Erst die Hand und ein paar Mal auch den Mund. Wem sollte sie noch treu sein, wenn der Wahrheit entsprach, was ihr Vater über Robert Schumann erzählt hatte? Den Menschen, den sie geliebt hatte, hatte es demnach ja eigentlich nie gegeben.
Nein, es war nicht so, dass Clara immer nur um ihre verlorene Liebe getrauert hätte. Allein schon der Erfolg beim Publikum schenkte ihr glückliche Augenblicke, und auch mit Carl Banck lebte sie auf, wenn sie durch die Parks der fremden Städte liefen, erhitzt und außer Atem, zwei junge Menschen, denen es Freude machte, sich an der frischen Luft zu bewegen. Erst als Carl Banck unbedingt von ihr hören wollte, dass sie ihn liebe, stieß sie ihn von sich und verlangte von ihrem Vater, dass er ihn wieder fortschickte.
Carl Banck, der sich zu Recht ausgenutzt fühlte, reiste nicht ab, ohne Clara drastisch darüber aufzuklären, wie der Mann, an dem sie anscheinend immer noch hing, auf die Zurückweisung durch ihren Vater reagiert hatte. Kein Abend sei vergangen, an dem er nicht betrunken nach Hause zurückkehrte. Danach habe er bis zum Morgengrauen wie ein Wahnsinniger Klavier gespielt, dass die ganze Nachbarschaft aus dem Schlaf gerissen wurde. Er habe jeden beleidigt, der sich beschwerte, habe mit der flachen Hand alle Gegenstände von Tisch und Schränken gefegt und sich erst beruhigt, als ihm Frau Devrient, seine Wirtin, drohte, ihn hinauszuwerfen.
»Und jetzt?«, fragte Clara leise. »Wie geht es ihm jetzt?«
Carl Banck zuckte die Achseln. »Jetzt arbeitet er anscheinend wieder. Wie besessen, sagt man. Das Beste, was er tun kann. Alles an diesem Menschen ist exzessiv. Ich verstehe nicht, wie Sie Ihr Herz an einen derart Verrückten hängen können.«
Ein Hurenbock. Ein Säufer. Einer, der »das Eine« tat ... Und nun auch noch ein Verrückter. Jeder behauptete
Weitere Kostenlose Bücher