Das Maedchen am Klavier
kleinen Mädchen hörte man. Clara überlegte schon, ob sie nicht einfach in den Salon hinuntergehen sollte, als wüsste sie gar nicht, dass ihr Vater Besuch hatte.
Dann aber unterbrach plötzlich ein Knall die Stille. Clara kannte dieses Geräusch: Wenn Friedrich Wieck seine Söhne unterrichtete und mit ihrer Leistung unzufrieden war, pflegte er sein Kontobuch hochzuheben – hoch über seinen Kopf, wie ein Zyklop, der einen Felsbrocken aufhebt, um die Eindringlinge auf seiner Insel zu zerschmettern. Alwin und Gustav hielten in solchen Augenblicken den Atem an, um sich auf das Donnern vorzubereiten, wenn das schwere Buch auf dem Schreibtisch aufschlug, als gelte es, die ganze Welt zu zermalmen.
Auch jetzt vernahm Clara das wohlbekannte Getöse, zugleichaber auch einen Aufschrei, der nur der Beginn einer langen Schimpfkanonade war, deren Inhalt Clara aber nicht verstand. Trotzdem konnte sie sich vorstellen, wie ihr Vater zornrot vor seinem Gast stand und ihn anbrüllte. »Nie, niemals!«, glaubte sie zu hören. »Zu jung!« und »Karriere!«, »Anmaßung!« und »Eher erschieße ich sie!« – »Sie«, Herr Schumann?, fragte sie sich, oder »sie«, meine Tochter?
Sie horchte, ob Robert Schumann die Angriffe erwiderte oder sich zumindest verteidigte. Doch nichts war zu vernehmen. Liebe und Mitleid überwältigten Clara. Ihr Geliebter da unten – wie sollte er, der nie die Stimme erhob, einem Mann wie Friedrich Wieck standhalten, dem das Kämpfen im Blut lag, dessen Leben eigentlich ein einziger Kampf gewesen war? Nichts war ihm geschenkt worden. Um alles hatte er sich bemühen müssen. Sich immer wieder demütigen oder zuschlagen müssen, um seine Interessen zu verteidigen. Auch jetzt kämpfte er, das spürte Clara, und ihr Zorn legte sich. Er tat es für sie, dessen war sie sicher. Er meinte es gut, auch wenn er sich aufführte wie ein Berserker. Alle beide meinten es wohl gut. Auch Robert, ihr lieber, armer Robert, der sie so glücklich machte. Keiner von beiden wollte ihr schaden. Was sollte sie nur tun, damit sie sich einigten?
Schlagartig trat Stille ein. Man hörte nur noch Robert Schumanns Schritte, als er die Stufen hinunterrannte und die Tür hinter sich zuwarf. Vom Fenster aus sah ihn Clara davonrennen, als würde er gehetzt. Einmal stolperte er und stürzte beinahe. Erst jetzt fing Clara an zu weinen.
3
Wenn Friedrich Wieck von der Wichtigkeit einer Sache überzeugt war, duldete er keinen Aufschub. Während der folgenden Stunden wurden seine und Claras Koffer gepackt, sämtliche Wintersachen vor allem, woraus zu schließen war, dass man für längere Zeit fortbleiben würde. Allerdings ging es diesmal nichtum eine Tournee, obwohl gelegentliche Konzerte immer denkbar waren.
»Meine Clara braucht eine Pause, in der sie sich weiterbilden kann«, erklärte Friedrich Wieck in sanftem Ton. Niemand hätte sich vorstellen können, dass dieser liebevolle Vater noch vor wenigen Stunden einen jungen Mann mit dem Tode bedroht hatte. »Kein Künstler kann immer nur geben«, fuhr er fort. »Hin und wieder muss auch seine Seele ausruhen und muss er sein Werkzeug schärfen.« Was bedeutete, dass Clara in Dresden bei Chordirektor Mieksch Gesangsunterricht erhalten sollte und beim Hofkapellmeister Reißiger musiktheoretische Unterweisungen. Nicht zum ersten Mal, und so hatte sie auch nicht das Gefühl, auf dem Weg ins Unbekannte zu sein.
»Alles wird gut, mein Clärchen«, versicherte Friedrich Wieck, als sie in der Kutsche saßen und dichte Schneeflocken den engen Innenraum verdunkelten. Auch das Dienstmädchen Nanni reiste diesmal mit ihnen, um Clara als Zofe zu dienen. Es schickte sich nicht, dass sich ein Vater um Garderobe und Wäsche einer erwachsenen Tochter kümmerte. »Alles wird gut«, wiederholte er.
Clara antwortete nicht. Seit ihr der Vater mitgeteilt hatte, dass sie Leipzig verlassen müsse, hatte sie kein Wort mehr gesprochen. Sie hatte nicht einmal versucht, Robert Schumann eine Nachricht zu hinterlassen. Er würde auch so erfahren, wohin man sie gebracht hatte. Eigentlich aber wollte sie auch mit ihm nicht sprechen. Vor vielen Jahren, als kleines Kind, hatten ihr die Streitigkeiten der Eltern den Mund verschlossen. Sie hatte geschwiegen, bis der Sturm vorbei war. Auch jetzt wollte sie nicht reden. Jedoch nicht aus Trotz nahm sie sich vor, zu schweigen. Fast schien es, als könnte sie einfach nicht anders.
So wenig sich Friedrich Wieck einst Sorgen um Claras Schweigen gemacht hatte, so wenig sorgte
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