Das Maedchen am Klavier
überstehen sollte. So schleppte er Clara gegen ihren Willen zum besten Zahnarzt der Stadt, Doktor Carabelli, und ließ ihr die Vorderzähne, die seiner Meinung nach zu eng standen, auseinanderfeilen. Clara ertrug die Schmerzen mit unterdrücktem Stöhnen, während Tränenströme über ihre Wangen flossen und ihre Hände die Armlehnen umklammerten. Danach sah alles zwar aus wie vorher, aber Friedrich Wieck fühlte sich besser. Für alles Gute im Leben musste ein Preis entrichtet werden.
Für den Nachmittag vor der abendlichen Audienz hatte Friedrich Wieck alle Termine abgesagt. Er, der noch nie im Leben einen Mittagsschlaf gehalten hatte, meinte nun, sich damit für das große Ereignis stärken zu müssen. Er zog sogar seine Oberkleider aus. Doch kaum lag er eine Minute im Bett, sprang er schon wieder auf, öffnete das Fenster, atmete tief und legte sich dann wieder zu Bett. Dieses Spiel wiederholte sich mehrere Male, bis er sich entschloss, doch lieber einen Spaziergang zu unternehmen und die Lungen mit frischer Luft vollzupumpen. So eilte er im Laufschritt aus dem Haus, während sich Clara mit Alfred von Schönburg im Salon unterhielt. Der bevorstehende Abend bekümmerte sie nicht. Sie hatte schon viele Persönlichkeiten kennengelernt, vor denen alle Welt buckelte und dieihr dennoch nicht anders vorgekommen waren als die übrige Menschheit.
»Sie sind so ruhig«, bemerkte Alfred von Schönburg anerkennend. »Ganz anders als Ihr Vater.« Er nahm Claras Hand und strich vorsichtig über ihre Finger. »Ich frage mich, warum Sie am Klavier ein ganz anderer Mensch sind.«
Clara runzelte die Stirn. »Anders?«, fragte sie misstrauisch. »Ich bin immer ich selbst.«
Der Fürst ließ ihre Hand los. »Sie wissen, dass ich Ihre Kunst verehre. Darf ich als Freund trotzdem eine Bemerkung darüber machen?«
Clara rückte von ihm ab. »Bitte sehr«, antwortete sie. »Nur zu!«
»Jemand hat einmal gesagt, in der Kunst wie im Leben sei die Ruhe die Goldprobe der Empfindung«, erklärte er behutsam, als hätte er Angst, Clara zu kränken. »Sie sind noch so jung. Wenn Sie am Klavier fantasieren, spürt man, wie innig Ihre Gefühle sind. Trotzdem lassen Sie den Zuhörer nach dem letzten Ton oft nicht vollkommen ruhig zurück. Manchmal kommt es mir vor, als fühlten Sie sich ständig gehetzt.«
Clara war sehr still geworden. »So ist mein Leben«, sagte sie und begriff erst jetzt, dass dies die Wahrheit über Clara Wieck war. »Ich lebe gehetzt, habe immer schon so gelebt. Ich kenne es nicht anders.«
Der Fürst legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Armes Mädchen«, sagte er zärtlich. »Was hat man nur mit dir gemacht?«
Clara lehnte sich an ihn. Eine Zeit verging. Clara horchte auf das Ticken der Uhr. Draußen auf der Straße fuhr hin und wieder eine Kutsche vorbei. Einmal lachte ein Mann. Ruhe!, dachte Clara. Das hat er wohl damit gemeint. Doch wie soll ich sie auf Dauer finden, wenn ich doch immer nur von einem Klavier zum nächsten hetze?
In diesem Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihrem Hals. Sanft, so sanft, dass sie erst meinte, sie hätte sich getäuscht. Dannaber fuhr sie zurück und sprang auf. »Was machen Sie da?«, rief sie ärgerlich.
Der Fürst lehnte sich zurück. Von einem Augenblick zum nächsten veränderte sich seine Miene. »Pardon, Mademoiselle«, sagte er ernüchtert. »Ich fürchte, ich habe da etwas falsch verstanden. Vielleicht sollte ich mich jetzt verabschieden.« Doch noch bevor er aufstehen konnte, klopfte es an der Tür, und Nanni brachte Tee und Gebäck.
Clara bereute ihre Heftigkeit. »Es tut mir leid, dass ich so schroff war«, sagte sie leise. »Ich hatte nur mit so etwas nicht gerechnet.«
»Mit so etwas?«
»Bitte, bleiben Sie noch!«
Da ließ er zu, dass sie ihm den Tee eingoss und ihm die Tasse reichte. Eine Weile schwiegen sie. Sein Blick fiel auf das Kleid, das Clara zur Audienz tragen wollte. Es hing an einem Bügel an der Tür, bereit für das große Ereignis. Ein langes Kleid aus kostbarer weißer Spitze, ganz einfach geschnitten und mit einer breiten roten Atlasschärpe um die Taille.
»Ein sehr schönes Kleid«, sagte der Fürst anerkennend und so beiläufig, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. »Welchen Schmuck werden Sie dazu tragen?«
»Meine kleinen Brillantohrringe und als Kette meine Taschenuhr.« Clara war erleichtert, dass er ihr ihr brüskes Verhalten anscheinend nicht nachtrug.
»Diese da?« Er wies mit der Hand auf Robert
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