Die Würde der Toten (German Edition)
Tag 1 – Montag
Aus der Helligkeit des Vormittages trat Adrian ein ins kühle Halbdunkel des Bestattungsinstituts. Er brauchte einige Sekunden, um sich an die veränderte Beleuchtung zu gewöhnen. Der Raum verströmte einen muffigen Geruch, passend zum Ambiente. Kerzen unter einem Kreuz , dezente Musik. Rechts, durch eine Glaswand abgetrennt, drei Särge mit Plastikblumenschmuck, eine Vitrine mit Urnen. Auf der linken Seite, hinter einem Schreibtisch, saß ein alter Mann im schwarzen Anzug und telefonierte.
Adrian empfand seine eigene Erscheinung plötzlich als unpassend. Jeans, ein einfaches T-Shirt und eine Lederjacke. Er räusperte sich.
Der Mann hob überrascht den Kopf, warf einen Blick zur Uhr, dann in den Kalender und legte die Hand über die Sprechmuschel. Stumm gestikulierend bedeutete er Adrian, das Gespräch sei wichtig und ergänzte dann flüsternd: »Gehen Sie den Flur entlang und die Treppe runter. Henry muss gleich fertig sein. Klopfen Sie einfach.«
Auf dem Weg nach unten schlug ihm Formalingeruch entgegen, der immer intensiver wurde. Durch die letzte Tür auf dem Flur drang Licht, aber niemand reagierte auf sein Klopfen. Ohne lange zu überlegen, öffnete er und betrat einen bis zur Decke hinauf gefliesten Raum. Erinnerungen an die Gemeinschaftsdusche in der Schulsporthalle huschten durch seinen Kopf, als er den im Boden eingelassenen Abfluss wahrnahm. Dann fiel sein Blick auf den Stahltisch. Und auf die nackten Füße an nackten Beinen. Aber nur kurz. Er wurde abgelenkt, als von rechts, aus dem uneinsehbaren Bereich hinter der Tür, eine pummelige Gestalt in einer ab waschbaren Schürze aus Gummi erschien. Schlachthofatmosphäre . Ihre Schuhe steckten in Plastikgamaschen. Auf einem unsichtbaren Schlagzeug schlug sie mit zwei dünnen Stäben einen lautlosen Takt und tanzte dazu über die weißen Fliesen.
Sie senkte die Hände und steckte auf jeden der Trommelstöcke einen Schlauch. Einen davon verband sie mit einem zylindrischen Glasbehälter, in dem eine rosafarbene Flüssigkeit waberte. Dann griff sie zu einem feinen Messer und machte sich damit am Hals des Leichnams zu schaffen.
Er musste dieses widerliche Treiben sofort beenden.
»Ich suche Henry«, platzte er heraus und hob dabei leicht die Stimme. Frankenstein ließ die Folterwerkzeuge fallen und fuhr herum.
Frankensteins Tochter, präzisierte Adrian in Gedanken.
Mit einer Hand zupfte sie sich die Kabel eines MP3-Players, die er erst jetzt bemerkte, aus den Ohren. »Sind Sie noch zu retten? Sie haben mich zu Tode erschreckt.«
Sein Lachen war nicht aufzuhalten. Makaber, unpassend, unbändig. »Na, dann liegen Sie hier ja gleich richtig, wenn Sie tot umfallen.«
Ihr rundliches, sommersprossiges Gesicht wechselte die Farbe von erschrecktem Rot zu dem Weiß, das einzig den Rothaarigen vorbehalten war.
»Der Mann dort oben hat mich runtergeschickt, zu einem gewissen Henry. Stimmt das – finde ich den hier?«
»Stimmt fast.« Sie nickte nachdrücklich. »Sekunde noch.«
Mit dem Skalpell setzte sie zügig zwei kurze Schnitte, nahm die Trommelstöcke wieder auf, bei denen es sich, wie Adrian jetzt erkannte, um große Kanülen handelte, und schob sie dem Toten scheinbar mühelos unter die Haut. Sie kontrollierte den Behälter und betätigte einige Schalter, woraufhin ein Motor zu laufen begann. Wortlos beförderte sie die Gummihandschuhe in den Müll, wusch sich akribisch die Hände und rieb sie mit einer Desinfektionslösung ein, um ihm dann die Rechte hinzustrecken.
»Henriette Körner, aber alle nennen mich Henry. Wir sind hier prinzipiell per Du, intern versteht sich. Wenn Kundschaft da ist, natürlich nicht. Also, bis auf solche«, sie deutete auf den Leichnam, »die lauschen nicht. Dann lass mal hören, was hast du denn für Referenzen? Schon mal so einen Job gemacht?«
Ehe er antworten konnte, sprach sie weiter:
»Neuling, tippe ich, so grün wie du um die Nase bist. Meine Klienten sind friedlich, die tun niemandem was. Du sollst als Aushilfe vor allem den Transport hierher und die Fahrten zum Friedhof übernehmen, dann ist der Deckel drüber. Außerdem sind wir sowieso immer zu zweit. Wenn wir eine Leiche abholen, übernehme ich am Anfang den Papierkram. Das ist alles halb so wild. Und das hier«, sie deutete wieder auf den stummen Mann, »ist mein Ding, damit hast du nichts zu tun.«
Sie nahm eine Wasserflasche vom Tisch, die beim Öffnen zischte, und schenkte ihm ein Glas ein. Er brachte keinen Ton heraus, nahm einen
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