Das Maedchen am Klavier
Kummer bereitete. Trotzdem konnte sie sich nicht vorstellen, dass er seine Drohung wahr machen und ihr von nun an seine Fürsorge entziehen würde. Ihr ganzes Leben lang war er für sie da gewesen. Er musste einsehen, dass sie auch nach ihrer Heirat seine Tochter blieb.
Eigentlich, so dachte sie, wären nun alle Probleme gelöst – wäre da nicht das Conservatoire-Konzert im Dezember gewesen, auf das sie keinesfalls verzichten wollte. Eine Hochzeit, schon zu Michaelis – Ende September also. Viel zu früh, viel zu früh! Warum hatte ihr Vater einen solchen Termin erlaubt oder sogar vorgeschlagen? Er musste doch wissen, in welche Bedrängnis sie dadurch geriet.
Die Tür öffnete sich. Emilie und Henriette hüpften herein, erhitzt und ausgelassen. Als sie den Brief auf Claras Schoß bemerkten, wurden sie ernst. »Von ihm?«, fragte Emilie besorgt.
Clara schüttelte den Kopf. »Von meinem Vater. Er gibt seine Einwilligung.« Sie reichte Emilie den Brief.
Henriette jauchzte auf und tanzte vor Freude um den Tisch herum. »Endlich!«, rief sie und war kein bisschen weniger begeistert, als sie von dem frühen Termin hörte. »Ach was!«, lachte sie. »Ehrgeiz ist gut. Ich bin auch ehrgeizig. Aber heiraten tut man nur einmal. Du bist doch schon seit Ewigkeiten unsterblichverliebt in diesen Mann. Freue dich, dass du ihn nun endlich bekommst! Denk an meinen Wahlspruch: ›Das Schicksal ist tückisch. Das Leben ist kurz. Deshalb rasch zum Ziel!‹«
2
Am 15. Juni 1839 leistete Clara vor einem französischen Notar eine Unterschrift, die allem widersprach, was sie von ihrem Vater gelernt hatte. Es handelte sich dabei um eine Vollmacht, die sie dem Leipziger Anwalt Dr. Wilhelm Einert erteilte. Er sollte sie selbst und Robert Schumann in einer Rechtssache vertreten, die – wenn alles nach Wunsch verlief – gar nicht erst ins Rollen kommen würde. Für alle Fälle aber erteilte Clara mit ihrer Unterschrift dem Anwalt die Vollmacht, alles Erforderliche zu unternehmen, um für sie selbst und Robert Schumann eine Heiratserlaubnis durchzusetzen – wenn nötig, auch auf dem Gerichtsweg und gegen den Willen des Vaters. »Wenn er es nicht gestattet, dann traut uns eben die Obrigkeit!«, hatte Robert Schumann in dem beiliegenden Schreiben erklärt. Clara war erst erschrocken, dann aber hatte sie sich beruhigt, weil ihr Verlobter auf den folgenden Seiten mit so wunderbaren Worten die Macht der Liebe rühmte, die alle Hindernisse überwand.
»So wie ich es verstehe, geht es darum, meinen Vater ein wenig unter Druck zu setzen«, erklärte Clara Pierre Erard, der entsetzt aufgeschrien hatte, als sie ihm von der Vollmacht erzählte. »Sie kennen meinen Papa nicht gut genug, Monsieur, um zu verstehen, warum mein Verlobter zu solchen Mitteln greift.« Sie zuckte die Achseln und lächelte. »Mein Vater ist ein herzensguter Mensch, der immer nur an mein Wohl denkt. In Bezug auf Herrn Schumann ist er aber völlig verbohrt.« Dann erzählte sie von den Bedingungen, die Friedrich Wieck an Robert Schumann gestellt hatte. »Er meint es bestimmt nicht so ernst«, versicherte sie. »So ist er eben: immer geradewegs drauflos. Aber unversöhnlich ist er nicht. Wir, also Herr Schumann und ich, meinen deswegen,wenn mein Vater erst erkennt, wie ernst es uns mit unserer Liebe ist, wird er nachgeben und auf seine Forderungen verzichten. Dann wird es auch niemals zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommen.«
Pierre Erard, am Schreibtisch seines eleganten Kontors, schüttelte den Kopf. »Ein herzensguter Mensch, Mademoiselle?«, fragte er zweifelnd. »Sie vergessen, dass ich Ihren Vater vor Jahren selbst kennengelernt habe. Obwohl sein Französisch katastrophal war, gelang es ihm trotzdem, jeden Widerspruch in Grund und Boden zu stampfen.«
Clara musste lachen. Sie merkte, wie gut es ihr tat, über ihren Vater zu sprechen.
Pierre Erard stand auf und führte Clara an seinen Besuchertisch. Er bot ihr Konfekt an und bediente sich auch selbst. »Ich muss Ihnen gestehen, ich bin sehr besorgt, Mademoiselle. Diese ganze Sache gefällt mir nicht. Da sind zwei Männer, die beide behaupten, Sie zu lieben und nur Ihr Bestes zu wollen. Diese beiden aber hassen einander und bekriegen sich gegenseitig bis aufs Blut. Ist Ihnen klar, mein armes Kind, dass Sie genau zwischen den Fronten stehen? Und schlimmer noch: dass Sie selbst die goldene Rose sind, um die diese beiden kämpfen?« Er sah Clara lange schweigend an. »Und was mich am meisten erschreckt: Jeden
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