Das Maedchen am Klavier
drang das Rauschen der Wellen bis zu ihrem Fenster herauf. So viele einzelne Geräusche in der Luft, obwohl alles doch ganz still und friedlich zu sein schien. Eine Amsel, die schöner sang als die berühmten Künstlerinnen in der Pariser Oper. Die Räder einer Kutsche, die über die unebene Straße holperten. Das Rascheln der Blätter im sanften Lufthauch: der Apfelbaum vor ihrem Fenster. Noch war das Obst nicht reif, doch bald würde es sich färben und sein Duft würde den Genuss ankündigen, den die Früchte in sich verschlossen.
Es war Sommer und Clara hatte eigentlich darauf vertraut, auch noch den Frühherbst hier zu erleben, bis die Konzertsaison begann und sie wieder ins Zentrum der Stadt zurückkehrte. Sie und all die anderen, die ihr Leben der Kunst gewidmet hatten und dann wieder in den kerzenbeschienenen Salons zusammentreffen würden, um voller Leidenschaft über das zu diskutieren, was siebewegte. So vieles hatte Clara noch zu lernen, doch immer mehr konnte auch sie zu den Gesprächen beisteuern. Clara Wieck, die junge Pianistin aus Deutschland, gehörte dazu. Wenn sie etwas sagte, ging man darauf ein. Sie durfte hoffen, dass das anspruchsvolle Paris zu ihrer zweiten Heimat werden konnte: zu ihrer Heimat als Künstlerin.
Ihr Vater würde es verstehen. Der einstige arme Teufel aus Pretzsch wusste, worauf es ankam. Warum wollte Robert Schumann es nicht einsehen, der doch selbst so begabt war, genial vielleicht sogar? Ganz oben sah er sich stehen in seinen Träumen, Seite an Seite mit Mozart und Beethoven. Warum akzeptierte er da nicht, dass auch eine Pianistin ihren eigenen Platz brauchte? Ein Kind der ganzen Welt musste sie sein. Überall daheim, wo Menschen bereit waren, sich für ein paar selige Stunden in der Musik zu verlieren.
Es wird Zeit, dass Du endlich zurückkommst ... Robert Schumann: Clara war überzeugt, dass sie ihn liebte. Dass er, wie seine romantischen Freunde es behaupteten, ihre andere Hälfte war, ohne die keiner von beiden Vollkommenheit erlangen konnte. Eusebius und Zilia, die liebevollen Doppelgänger – wäre da nicht noch der dunkle Florestan gewesen, der auch sein Recht verlangte. Einen kurzen Augenblick lang dachte Clara, dass auch der liebste Mensch auf der Welt der schlimmste Feind sein konnte. Doch schnell drängte Friedrich Wiecks bodenständige Tochter diese Überlegung zurück ins Dunkel ihrer Seele und überlegte, was sie tun konnte, um ihre Lebensaufgabe zu retten.
In der darauffolgenden Nacht hatte sie einen schweren Traum, aus dem sie mit einem Aufschrei erwachte. Sie wagte kaum, sich daran zu erinnern. Sie wusste nur noch, dass sie auf der Flucht vor irgendetwas durch einen dunklen Wald gelaufen war. Niemand war ihr zu Hilfe gekommen. Zuletzt hatte sie sich mit beiden Füßen in einer eisernen Falle verfangen, die sie nicht mehr losließ, sosehr sie auch um ihre Freiheit kämpfte. Erst der eigene Schreckensschrei hatte sie aufgeweckt. Nun starrte sie entsetzt ins Dunkel und wusste sich nicht zu helfen. Sie wusste, dass sie nur geträumt hatte, doch die Angst war geblieben.
Obwohl es noch Nacht war, floh Clara ans Klavier. Sie versuchte, sich mit ihrem Spiel von der Last des Traumes zu befreien. Doch es gelang ihr nicht, sosehr sie auch dagegen anspielte. Töne, so schrecklich wie das Erlebnis dieses Traums. Wie in Trance beugte sie sich über ihr Instrument, hämmerte auf die Tasten ein und spürte noch immer den unerträglichen Druck der Falle, die sie im Traum umklammert hatte.
Emilie und Henriette stürzten ins Zimmer. Sie zerrten Clara vom Klavier weg, umarmten und streichelten sie und redeten beschwörend auf sie ein. Es dauerte lange, bis sich Clara nach und nach beruhigte.
Inzwischen brach der Morgen an und durch das Fenster drangen die ersten Sonnenstrahlen. Clara atmete tief ein.
»Geht es dir besser, meine arme Clara?«, fragte Emilie, noch immer voller Sorge, und küsste sie auf die Wange wie ein kleines Kind, das getröstet werden muss.
Clara nickte und strich sich das Haar aus der Stirn. »Es tut mir leid, dass ich euch aufgeweckt habe«, sagte sie leise. »Ich hatte einen bösen Traum, aber jetzt ist alles wieder in Ordnung.« Doch noch während sie sprach, spürte sie erneut die Erinnerung an ihre Angst und ihre Hilflosigkeit und sie hatte das Empfinden, dass auf einmal nichts mehr in Ordnung war.
Das Gefühl, etwas Schlimmes stehe ihr bevor, gab sie nicht mehr frei. Wenn sie sich unter Menschen aufhielt, vergaß sie darauf. Doch kaum war
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