Das Maedchen am Klavier
sie allein, legten sich die Schatten wieder über ihr Gemüt. Dabei kam es ihr immer öfter vor, als hätte sie dieses oder etwas ganz Ähnliches schon früher einmal erlebt. Oft dachte sie darüber nach und durchforschte ihre Erinnerung, besonders vor dem Einschlafen. Das alte Haus in Leipzig fiel ihr dann ein, in dem sie die allerersten Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte. Sie wusste nicht mehr viel von dieser Zeit. Nur an immer wiederkehrende Wortgefechte erinnerte sie sich, wenn ihr Vater und ihre Mutter im Streit aufeinander losgingen und einander Vorwürfe machten, die das Kind Clara nicht verstand und die ihmdie Sprache raubten. Stumm und starr war sie in ihrem schönen, geschnitzten Bettchen gelegen und hatte sich hilflos ausgeliefert gefühlt. Ein kleines Mädchen, das dem Krieg seiner Eltern zuhörte und nicht wusste, wohin all der Zorn und all die Bosheit führen würden.
Immer wieder verglich sie ihre damalige Situation mit ihrer jetzigen, aber sie war nicht in der Lage, die Gemeinsamkeiten zu begreifen. Nur am Klavier konnte sie sich artikulieren und die Schatten in ihrer Seele auffinden. Dabei dachte sie auch immer wieder an die Angst, die sie und ihr Vater in den Tagen der Pariser Cholera gehabt hatten, ohne es sich eingestehen zu wollen. Zu ungelegen war es ihnen gekommen, dass sie auf das wichtige Konzert verzichten sollten, das das Wundermädchen aus Sachsen im strengen Paris etablieren sollte. Hilflosigkeit und Angst hatten beide verspürt – und Friedrich Wieck dazu vielleicht auch noch ein Schuldgefühl, weil er sein Kind so lange nicht in Sicherheit brachte. Clara aber hatte ihm vertraut und sie wünschte sich auch jetzt, dass er da wäre und sie vor dieser neuen Gefahr schützte, deren Anwesenheit sie spürte und die sie dennoch nicht durchschaute.
»Hast du Angst?«, hatte Emilie gefragt, als Clara nach Paris kam.
»Ich habe keine Angst, Mila«, hatte Clara geantwortet, fest und ohne jeden Zweifel, und es war die Wahrheit gewesen. Clara Wieck aus Leipzig hatte keine Angst vor dem Moloch Paris. Die Angst war erst jetzt aufgetaucht, als ihr Liebster sie aufforderte, die fremde Stadt zu verlassen und zu ihm zurückzukehren, dorthin, wo vielleicht der Verzicht wartete auf alles, wofür sie erzogen worden war und wofür ihre Seele nun brannte. Was war wichtiger für sie: den Wunsch ihres Verlobten zu erfüllen oder den eigenen Weg weiterzugehen, der vielleicht viel schwerer zu bewältigen war, der dafür aber ihrem Wesen entsprach?
Musik!, dachte sie. Wir lieben sie beide und wollen beide für sie leben. Ich weiß nur nicht, ob sein Reich der Musik das gleiche ist wie das meine.
Dann traut uns die Obrigkeit!
1
Voll guten Willens hatte Robert Schumann das Haus in der Grimmaischen Gasse betreten. Gedemütigt und vor Rachsucht bebend verließ er es wieder. Der Diener August ließ es sich nicht nehmen, ihm das Haustor weit zu öffnen und ihn mit einem höhnischen Kratzfuß zu verabschieden. »Auf Nimmerwiedersehen, der Herr!«, rief er ihm nach, wohl wissend, dass ihn Friedrich Wieck für dieses Benehmen nicht rügen würde.
Robert Schumann hastete die Stufen zum Gehsteig hinunter und hielt dann kurz inne. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er noch immer den Packen Schriftstücke, die ihm Friedrich Wieck aufgenötigt hatte, unter dem Arm trug: Belege, die Robert Schumann fast schon als Hochstapler erscheinen ließen, weil sie zu beweisen schienen, dass er nicht, wie behauptet, der vermögende Mann war, der die Tochter eines Großbürgers angemessen ernähren konnte.
»Sie geben vor, über ein jährliches Einkommen von tausenddreihundertzwanzig Konventionsfuß zu verfügen?«, hatte ihn Friedrich Wieck mit seiner schneidenden Stimme attackiert. »Das mag vielleicht zutreffen, wenn Sie das Vermögen meiner Tochter mitrechnen. Ihre eigenen Mittel reichen aber nicht im Mindesten an diese Summe heran.«
Robert Schumann, der gehofft hatte, behutsam an die Sympathien aus alten Zeiten anknüpfen zu können, war nicht in der Lage, sich zu verteidigen. »Ich versichere Ihnen, Herr Wieck ...«, begann er.
Doch Friedrich Wieck unterbrach ihn. »Legen Sie mir positive Beweise über Ihre Vermögensverhältnisse vor, dann können wir weiterreden!«, fuhr er Robert Schumann an. »Solide Beweise, durch Dokumente beglaubigt und von einem hiesigen Advokaten, den ich dazu bestimmen werde, vorgelegt.«
Noch immer stand Robert Schumann mit dem Hut in der Hand vor ihm.
»Sollten Sie mich überzeugen, heißt das
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