Das Maedchen am Klavier
Clara von Hamburg mit nach Hause. Von ihrem Vater hatte sie gelernt, Vergleiche anzustellen: »Ein städtischer Musikdirektor in einer größeren Stadt verdient im Jahr etwa siebenhundert Taler«, hatte ihr Friedrich Wieck einmal erklärt. Vierhundertneunzig Taler für eine einmonatige Konzertreise waren demnach kein schlechter Schnitt. Clara würde nicht mit leeren Händen nach Leipzig zurückkehren. Trotzdem hatte sie vor, auch noch bei weiteren Gelegenheiten hinzuzuverdienen. Eine kleine Tournee durch Thüringen beispielsweise würde sie nicht allzu weit von Leipzig entfernen, sodass sie im Notfall schnell zurückreisen konnte.
Vierhundertneunzig Taler Reingewinn. Es wäre noch mehr gewesen, hätte Marianne bescheidener gelebt und nicht am Ende auf einer Entschädigung für ihre ausgefallenen Musikstunden bestanden sowie auf einem »kleinen Zubrot für das arme Mütterchen«. Nie würde Clara vergessen, wie Marianne mit spitzen Fingern einfach in Claras Reisekassette gegriffen und sich lächelnd ein Bündel Scheine herausgefischt hatte. »Du hast so viel und ich habe so wenig«, rechtfertigte sie sich ein paar Stunden später, als Clara immer noch nicht mit ihr sprechen wollte. »Sei nicht so mürrisch, Clärchen! Wir hatten doch eine großartige Reise.«
Ja, dachte Clara, es war schön in Hamburg ... Die Stadt gefiel ihr tatsächlich sehr mit ihren großbürgerlichen Fassaden, dem Geruch von Salzwasser, den Schiffen, die weiß Gott woher kamen und weiß Gott wohin fahren würden, und den Schwänenund den Möwen, deren Schreie Clara zusammenzucken ließen. »Es ist schön hier, mein lieber, lieber Robert«, schrieb Clara nach Leipzig. »Könntest Du doch bei mir sein anstelle meiner Mutter, die ständig das halbe Hotel in Aufregung versetzt.«
Danach verfasste sie einen Brief an Emilie in Paris. Erst jetzt, da sie ein wenig zur Ruhe kam, fiel ihr ein, dass Emilie sie vom Tode ihres Bruders Oskar verständigt hatte. Inzwischen waren viele Wochen vergangen. Hoffentlich vermutete Emilie, Clara habe den Brief verspätet erhalten. Wie sollte sie der Freundin sonst verzeihen, dass sie sich nicht gemeldet hatte? Erst durch diese Nachlässigkeit kam Clara zu Bewusstsein, wie sehr sie sich in den vergangenen Monaten aus der Hand verloren hatte.
»Allerallerliebste Freundin!«, schrieb sie dann, erfüllt von schlechtem Gewissen. »Erst jetzt hat mich Dein Brief erreicht.« Im übertragenen Sinn traf dies ja auch zu und war somit nur teilweise eine Lüge. Zugleich wusste Clara, dass sie sich nie wieder in einer so verworrenen Lage befinden würde wie in letzter Zeit. Niemals wieder würde sie daher ihre Freundin in einer so traurigen Angelegenheit so lange auf eine Antwort warten lassen. »Liebe, liebe Mila! Ich weine mit Dir und den Deinen um unseren guten Oskar, den ich so gern gehabt habe. Er war wie ein Bruder für mich.«
Sie weinte wirklich und hatte dabei das Gefühl, dass sie sich damit auch aus ihrem eigenen Chaos befreite. Endlich war sie wieder offen für das Leid anderer. Irgendwann, in vielleicht nicht allzu ferner Zeit, würde sie gänzlich zur Ruhe kommen und wieder so sein wie früher. Vor allem Musik würde dann noch ihr Leben bestimmen. Musik und – hoffentlich, hoffentlich! – auch Liebe.
Die hanseatische Weite der Stadt befreite sie von ihren Beklemmungen. Leipzig war fern, präsent nur in Robert Schumanns Briefen, die ebenfalls aufzuatmen schienen. »Seit gestern früh habe ich gegen siebenundzwanzig Seiten Musik niedergeschrieben«, berichtete er. »Ach Clara, was ist das für eine Seligkeit, für Gesang zu schreiben! Ich schicke Dir hiermit ein kleines Liedchen zu Deiner Freude. Sing Dir’s leise und denk an mich. Esheißt ›Schöne Wiege meiner Leiden‹. Das mag in Deinen Ohren traurig klingen, ist aber auch voller Zuneigung. Es passt auf uns, denn Deinem Ergebenen geht ebenfalls das Herz über vor lauter Zuneigung und Liebe, wenn er an sein energisches braunäugiges Mädchen denkt.«
Da war sie wieder, die Zärtlichkeit von einst, die Clara schon verloren gegeben hatte. »Man hat endlich den Vorwurf der Trunksucht zurückgezogen«, berichtete Robert Schumann danach in etwas sachlicherem Tonfall. »Man«, damit meinte er wohl Friedrich Wieck, dessen Namen er nicht erwähnen wollte. »Das Gericht kann nun ohne Einschränkung entscheiden. Bald sind wir frei, frei, frei! Oh, meine Clara! Mein Clärchen! Meine wunderbare Zilia! Meine Geliebte! Meine Braut!«
Als Clara diese Worte las, war sie
Weitere Kostenlose Bücher