Das Maedchen am Klavier
zerschellen und ihre zukunftsträchtigen Finger für immer zerquetscht werden. Doch die Wünsche erfüllten sich nicht. Kein Märzregen unterspülte die Straßen, kein verfrühter Blitz setzte das Gefährt in Brand. Als wäre die beschwerliche Reise ein einziges Vergnügen gewesen, trafen Friedrich Wieck und seine Tochter in Dresden ein, warmherzig empfangen von Hofrat Dr. Carus, dem Leibarzt des Königs von Sachsen.
Im Salon des Hofrats Carus traf sich die kunstsinnige Gesellschaft der Stadt. Wer von ihm gefördert wurde, dem öffneten sich die Türen der Adelshäuser und sogar des Hofes. Ein vornehmer, schlanker Herr mit eleganten Bewegungen und einer ruhigen, gewählten Sprechweise. Noch nie war Friedrich Wieck einem solchen Menschen begegnet. Wie gern wäre er gewesen wie er! Doch dazu bedurfte es wohl mehrerer Generationen in einem Milieu, das sich um die alltäglichen Bedürfnisse nicht zu sorgen brauchte. Der Sohn eines kleinen Kaufmanns aus Pretzsch bei Torgau hatte in seiner Jugend ein solches Leben nicht kennengelernt.
»Als ich zur Schule fort war, lebte ich kalt von Brot und Schmalz«, raunte er eines Abends Clara zu, als sie an der langen Tafel des Hofrats speisten, umgeben von satten, herausgeputzten Menschen, die sich bestimmt nicht vorstellen konnten, dass der Vater des anwesenden Wunderkindes einst nur einmal im Jahr seine Lieblingsspeise bekommen hatte: Schöpsenbraten mit Bohnen oder Schoten. Mit diesem Gericht aber konnten für Friedrich Wieck selbst die erlesenen Gaumenfreuden, die von weiß behandschuhten Lakaien unter silbernen Clochen aufgetragen wurden, nicht konkurrieren.
Trotz ihrer Jugend hatte Clara Verständnis für ihren Vater. Die neue, strahlende Welt, in der sie so bereitwillig aufgenommen wurde, war nur zum Teil auch die ihre. Ohne Scheu bewegte sie sich in dieser Gesellschaft, aber sie wusste, dass sie selbst anders war als die behüteten kleinen Adelsmädchen, deren Leben vorgezeichnet war und die um nichts zu kämpfen brauchten. Wenn sie mit ihren Eltern reisten, taten sie es in einer eigenen Kutsche, und sie übernachteten stets bei ihresgleichen und nicht in abgewohnten Hotels oder schmutzigen Gasthöfen. Sie brauchten nicht täglich zu üben, bis sich ihre Fingernägel spalteten, und sie durften in gemäßigter Weise ihren Launen nachgeben und vor Untergebenen Wohlverhalten verweigern, wenn ihnen danach zumute war.
Clara beneidete diese Mädchen nicht. Sie bildeten die Masse, das Übliche, während sie selbst, Clara Wieck aus Leipzig, das Besondere war. Wenn sie am Klavier saß, hörte man ihr zu und ließ sich bereitwillig von ihr verzaubern. Sie bewunderte man, ihre Nähe suchte man. Selbst ein vornehmer Herr wie Hofrat Carus nannte sie »ein feines Mädchen« und lobte die Reinheit und Zartheit ihres Ausdrucks. »Ich kann mich kaum erinnern, jemals Ähnliches gehört zu haben«, sagte er zu Friedrich Wieck, der zum ersten Mal seit langem verlegen errötete.
Mehrmals durfte Clara im Hause Carus auftreten. Sie spielte Weber, Beethoven und Bach. Als ob das alles nicht genug wäre, machte man sich ein Vergnügen daraus, ihr irgendein Thema aufzugeben,über das sie fantasieren sollte. »Eine Komponistin!«, rief man dann verblüfft. »Unglaublich!«, denn eigentlich hieß es doch, Frauen seien zum Komponieren nicht geeignet.
Clara gehorchte der Aufforderung mit einem kaum merklichen Lächeln. Am Klavier zu fantasieren war ein Leichtes für sie. Sie spielte von Sehnsucht, von Liebesleid und von Zorn – was besonders beliebt war, denn kein erwachsener Mann konnte kräftiger in die Tasten hauen als dieses zarte Mädchen, wenn man es nur ließ.
Clara Wieck war das Stadtgespräch in Dresden. Kein Wunder, dass sich bald auch der Hof für sie interessierte. Prinzessin Louise lud sie zum Vorspielen ein, danach sogar der Thronfolger Johann. Man schenkte ihr Ringe von der eigenen Hand, seidene Tüchlein und goldene Busennadeln, obwohl sie doch noch gar keinen Busen hatte. Friedrich Wieck führte genau Buch über jede Gabe. An einem Tag waren es um drei Uhr nachmittags schon sechzehn Präsente. Clara nahm es als selbstverständlich hin, dass sie die meisten Geschenke nicht behalten durfte. Ihr Vater hatte ihr erklärt, dass es sich dabei de facto um Honorare handelte, die nach der Reise zu Geld gemacht werden sollten, um damit weitere Reisen vorzufinanzieren.
Friedrich Wieck nutzte die Zeit in Dresden. Jeder Besucher wurde vorgelassen, jede Einladung akzeptiert. Tout Dresden
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