Das Maedchen am Klavier
können stolz auf sie sein.« Erneut schmatzte man sie ab, und ein paar größere Mädchen bürsteten ihr Haar und flochten es zu kleinen Zöpfen, die sie zum Knoten schlangen. Clara ließ es geschehen wie eine Prinzessin, und als man sie aufforderte, am Klavier zu fantasieren, tat sie es mit gewohnter Inbrunst.
Im Nachhinein, viel, viel später, erinnerte sich Friedrich Wieck an die Zeit in Dresden. Er kam zu dem Schluss, dass diese Tage wahrscheinlich die glücklichsten seines Lebens gewesen waren.
2
Das Karussell drehte sich weiter. So viele Lichter, die vorbeiflogen, so viele Menschen, die auftauchten und wieder verschwanden! Für wenige Augenblicke, Stunden oder Tage drängten sie sich in Claras Leben, erfüllten es, bestimmten es – und traten dann wieder zurück in die Bedeutungslosigkeit. So kurzlebig waren die meisten Begegnungen, dass Clara sie vergessen hätte, hätte sie nicht hin und wieder in dem Tagebuch geblättert, das ihr Vater für sie führte. Wenn er »ich« schrieb, meinte er nicht sich selbst, sondern seine Tochter, in deren Namen er sich auch seiner pädagogischen Fähigkeiten rühmte.
Einer von denen, die Clara und ihr Vater nie vergessen würden, war Niccolò Paganini, der berühmteste und verschrienste Geigenvirtuose seiner Zeit. Niemand in Leipzig hätte erwartet, diesen Mann jemals auf der Bühne des Gewandhauses zu erleben. Fast hatte man Angst bei diesem Gedanken. Als Friedrich Wieck, der plante, sich ein weiteres Standbein als Konzertagent zu schaffen, zum ersten Mal den Vorschlag machte, sich um einen Auftritt des italienischen Meisters zu bemühen, bekam er nur Einwände zu hören. Niemals würde sich diese Berühmtheit herablassen, in einer Provinzstadt wie Leipzig aufzutreten, und wenn doch, dann würden seine Honorarforderungen so exorbitant sein, dass ein Vertrag daran scheitern musste. Wahrscheinlich aber würde man nicht einmal zu Verhandlungen an ihn herankommen. Bekanntermaßen sei der Mann ein Verrückter, mit dem man nicht reden konnte. Sein Kosmos sei von der geordneten Welt der sächsischen Biedermänner himmelweit entfernt. Nicht umsonst nannte man ihn den »Teufelsgeiger«.
Friedrich Wieck kannte jedes Gerücht und jede Anekdote überPaganini. Seine Jugend habe er in einem Kerker zugebracht, hieß es, tief unten in einem Kellergewölbe. Jahrelang sei der Gefängniswärter sein einziger Kontakt gewesen. Damit er in der Einsamkeit nicht völlig den Verstand verlöre, gestand man ihm eine Violine zu, die im Halbdunkel der Zelle seine Gefährtin wurde und sein Trost. Ihr vertraute er seine tiefsten Gefühle an: seinen Groll, seinen Zorn, seine Reue, seine Verzweiflung und seine Sehnsucht nach Freiheit und Liebe.
Eine Saite nach der anderen zerfetzte er im Laufe der Gefangenschaft, bis nur noch eine einzige übrig blieb: die G-Saite, deren Gehalt und Möglichkeiten er bis ins Letzte ausschöpfte. Auch später nutzte er sie für viele seiner Kompositionen.
Wenn er in seinen Konzerten an die Rampe trat und durch seine dunkelblaue Brille wie aus toten Augen ins Publikum starrte, ahnte man schon, was nun folgen würde. Ängstlich duckte man sich in die bequemen Plüschsessel und lieferte sich dem Geiger aus, der plötzlich nur noch auf dieser einzigen Saite spielte. Man wusste, dass dies in Erinnerung an seinen Kerker geschah, an das Fegefeuer, das er durchschritten hatte, nur begleitet von seiner Geige. Man spürte die Hölle, die dieser Mann kennengelernt hatte, und man geriet in eine Ekstase, die man bisher nicht gekannt hatte... Wenn der Geiger dann langsam wieder zurückwich und die Töne aus seinem Instrument leiser wurden, sanft und zärtlich, dachte man daran, dass er einst seiner sterbenden Mutter seine Violine vor die Lippen gehalten hatte, damit sie an ihr ihr Leben aushauchte. Paganini, der Teufelsgeiger, der auch den Himmel herbeiflehen konnte. Dem nichts fremd war im Guten wie im Bösen.
Und dieser Mann sollte nun nach Leipzig kommen! Der Tag stand fest. Aus dem besten Hotel der Stadt hatte man die bisherigen Übernachtungsgäste ausquartiert, um Platz zu schaffen für den Teufelsgeiger und seine Entourage. Es war nicht schwer gewesen, die Gäste loszuwerden. Niemand wollte unter einem Dach übernachten mit dieser unberechenbaren italienischen Horde und ihrem Hexenmeister, dem alles zuzutrauen war. VonMittag an wartete man nun, kontrollierte – was bisher noch nie vorgekommen war – Fingernägel und Ohren des Personals und roch gegenseitig an der
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