Das Maedchen am Klavier
schmunzelnd eine gewisse Ähnlichkeit mit der Dame aus Graz fest. Wer Emilie kannte, erteilte den Sitznachbarn amüsiert Auskunft über sie. Eine künstlerische Sternstunde erwartete man nicht.
Nachdem Emilie Platz genommen hatte, entstand eine Pause. Man wartete. Und wartete. Dann trat plötzlich – jetzt schon fast unerwartet – ein Mädchen auf die Bühne. Nach ein paar Schritten blieb es stehen, wie um sich erst einen Überblick zu verschaffen. Niemand wusste, warum, aber auf einmal verstummten die Gespräche. Alle blickten hinauf zu dem Mädchen in seinem weißen Seidenkleid, das mit dem schwarzen Haar kontrastierte. Ein schönes, schlankes Kind, von dem eine seltsame Kraft auszugehen schien, eine Autorität und Konzentration, die einige Zuschauer veranlasste, die eigene, allzu bequeme Sitzhaltung zu korrigieren.
Ernst und gemessen trat Clara vor und versank in einen tiefen Knicks. Das Publikum atmete auf und klatschte. Man war verblüfft, ohne selbst zu verstehen, warum. Clara setzte sich rechts neben ihre Mitspielerin und gab ihr mit einem Kopfnicken das Zeichen zum Beginn. Dann donnerte sie los mit einer Kraft und einem Selbstbewusstsein, die das ängstliche Herantasten der Hauptakteurin des Abends blitzartig vergessen ließen.
Das Publikum war elektrisiert. Alles schien plötzlich in wunderbarer Weise zusammenzupassen: das dunkle, fremdartige Äußere dieses Mädchens, seine Kraft und seine beherrschende Ausstrahlung. Das Stück selbst merkte man sich kaum. Als es zuEnde war, hoffte man auf eine Zugabe, doch auf den Wink des Impresarios hinter der Bühne knicksten die beiden Pianistinnen nur und traten ab.
Es dauerte lange, bis der Beifall verebbte. Trotzdem erlaubte Friedrich Wieck nicht, dass sich Clara nochmals zeigte. »Sie vermissen dich jetzt schon«, sagte er mit heiserer Stimme. »Gut gemacht, Clärchen! Das hier ist der Anfang von allem.«
Alle sprachen von Clara Wieck. Die »Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung« schwärmte von den »großartigen Musikanlagen« des jungen Talents und lobte zu Friedrich Wiecks Genugtuung auch dessen Verdienste: »Unter der Leitung ihres musikerfahrenen, die Kunst des Pianofortespiels wohl verstehenden und dafür mit Liebe sehr tätigen Vaters dürfen wir für Clara Wieck die größten Hoffnungen hegen.« Sogar das »Journal des Luxus und der Moden« berichtete über den Abend und sah einen neuen Stern am Musikhimmel aufgehen. Besonders hervorgehoben wurden hier die erlesene Garderobe des Mädchens und das schöne schwarze Haar, »im Nacken schlicht geknotet, doch mit dichten Lockenkringeln hinter den Wangen«. Man rechnete damit, dass diese Frisur bald von vielen jungen Damen kopiert werden würde und die komplizierten Korkenzieherlocken und verspielten Haarschleifen von Moke, Belleville, Blahetka und Co. ablösen würde.
Das Karussell drehte sich weiter. Leipzig sollte nur der Anfang sein, ein gelungener Anfang zwar, doch jenseits der Stadtgrenzen wartete die Welt. Dresden, Weimar, womöglich sogar Wien oder ... Friedrich Wieck schwirrte der Kopf. Paris!, dachte er. London. Oder gar New York ... Oder die ganze Welt, die imstande war, Musik zu fühlen und zu begreifen. Ein einziges übermächtiges Drängen war in ihm, eine Ungeduld und eine Lust, wie er sie bisher nicht gekannt hatte. Sein Ziel lag so hoch, dass er es selbst kaum benennen konnte, doch schon der Weg dahin war berauschend.
Und Clara verstand ihn. Sie wusste nicht, was Ehrgeiz war,aber sie fühlte ihn. Nie würde sie den Augenblick vergessen, als der letzte Ton verklang und die Stille im Saal übermächtig wurde, bis sich die Spannung in einem einzigen, gemeinsamen Aufschrei der Zuhörer löste und in einen Applaus überging, wie ihn Clara bisher noch nicht erlebt hatte. Ihretwegen hatten sie den Atem angehalten, und ihretwegen jubelten sie nun. Sie war die Mitte dieses Moments, seine Königin, seine kleine Göttin. Auch wenn man sich kurze Zeit später vor den Garderoben drängen würde und am nächsten Tag kaum noch an sie dachte: Im Augenblick des Triumphs sammelten sich die Energien aller Anwesenden zu einer einzigen Kraft, die auf sie, Clara Wieck, einströmte und sie überflutete. Nie mehr wollte sie auf dieses Gefühl verzichten. Immer wieder wollte sie es erleben. Oh, wie einig sie sich doch waren, Vater und Tochter!
Dresden folgte. Natürlich Dresden, die Residenzstadt, wo die ansässigen Klavierspielerinnen eifersüchtig darauf hofften, Claras Kutsche möge im Straßengraben
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