Das Maedchen am Klavier
ihres Lebens darstellte. Geschmückt zu sein, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen – Clementine gestand sich ein, dass ihr dies alles in Wahrheit nur wenig bedeutet hatte. Eigentlich war es sogar eine Last für sie gewesen, weil sie wusste, dass das weiße Rüschenkleid und der zarte Schleier nicht zu ihr passten. Clementine Fechner war kein zierliches Mädchen, dessen Anblick Tränen der Rührung hervorlockte. Clementine Fechner war kräftig, energisch, bodenständig. Zugleich war sie unerhört erleichtert, nicht das werden zu müssen, was viele bereits in ihr sahen: eine alte Jungfer, die keiner gewollt hatte und die nie das Zepter eines Haushalts in Händen halten würde.
Das war es, dachte sie, während die Handflächen auf den Tisch klatschten. Einen eigenen Haushalt wollte sie haben; ein schönes, großes Stadthaus, sauber und bestens in Schuss und womöglich sogar an einer Straßenecke; genug Geld zur Verfügung, dass alles Nötige umgehend in die Wege geleitet werden konnte; Dienstboten, die widerspruchslos spurten, und einen Ehemann, der ihr nicht dreinredete.
Ich habe doch alles!, dachte sie und ließ die Handflächen wieder und wieder auf den Tisch klatschen. Ihre Enttäuschung über die ausgefallene Reise kam ihr plötzlich lächerlich und kindisch vor. Wie wäre es gewesen, hätte ihr Mann sie nach Dresden mitgenommen? So vieles hätte organisiert und vorbereitet werden müssen, damit der Haushalt während ihrer Abwesenheit geordnet weiterlief und die Kinder gut versorgt waren! Ein Koffer hätte gepackt werden müssen, der die passende Kleidung für den Aufenthalt in der eleganten Stadt enthielt. Kleidung, die Clementine gar nicht besaß, weil sie bisher nie aus ihrem engen Umfeld herausgekommen war. Wie sollte sie da Schritt haltenmit den Zierpuppen in Dresden, die womöglich die Nase über sie rümpften und sie eine Landpomeranze nannten? Würde ihr Mann nicht auf dumme Gedanken kommen, wenn er sie neben den feinen Damen sah, die den ganzen Tag lang nichts anderes zu tun hatten, als sich zu präsentieren? Würde er womöglich Vergleiche anstellen, die nur zu Ungunsten seiner eigenen Gattin ausfallen konnten? Dass er gegen weibliche Reize nicht vollends gefeit war, zeigte immerhin die Wahl seiner ersten Ehefrau.
Wie gut, dass ich nicht mitfahren musste!, dachte Clementine erleichtert und richtete sich auf. Sie hörte, dass der Regen an die Scheiben schlug, und stellte sich vor, wie sie jetzt in einer kalten, schlecht gefederten Postkutsche säße in unangenehmer Nähe zu irgendwelchen Fremden, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Nach der Ankunft würde man in einem Gasthof absteigen oder in einem Hotel – und hatte Friedrich Wieck nicht oft genug berichtet, wie sehr in diesen Häusern die Sauberkeit zu wünschen übrig ließ? Man würde schlechtes Essen hinunterwürgen und sich wegen der überhöhten Preise ärgern. Am nächsten Tag würde Friedrich Wieck seinen Geschäften nachgehen, und sie würde nicht wissen, was sie in der fremden Stadt anfangen sollte. Schöne Gebäude, ein Spaziergang am Fluss, eine Tasse Kakao auf einer Hotelterrasse? Aber es regnete doch, und sie würde sich unter den vielen fremden Menschen nicht wohl fühlen ... Wie gut, dass ihr Dresden erspart geblieben war!
Dresden – und eigentlich auch das lästige Gesellschaftsgetue hier in Leipzig: Schon in den ersten Tagen seiner zweiten Ehe hatte Friedrich Wieck immer wieder vergessen, Clementine zu den Veranstaltungen, die er besuchte, mitzunehmen. Erst wenn er schon an der Tür stand, fragte er zerstreut und ein wenig gehetzt: »Du wolltest doch nicht mitkommen, oder? Es wird bestimmt wieder unerhört langweilig werden. Wenn es nicht wegen des Geschäfts wäre, bliebe ich selbst auch lieber bei dir daheim.« Dann nickte sie gewöhnlich und versicherte, auch sie habe noch viel zu erledigen und sei froh, ihre Arbeit nicht unterbrechen zu müssen.
Meist aber kamen die Gäste zur ihr ins Haus. Dann stand sie in der Küche und dirigierte die Dienstboten. Erst wenn der Abend zu Ende ging, ließ sie sich sehen: ein wenig erhitzt und zerzaust, aber stolz und zufrieden, weil alles wie am Schnürchen gelaufen war. Sie genoss die Komplimente über ihre Tüchtigkeit, vor allem weil sie wollte, dass Friedrich Wieck hörte, wie man sie lobte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie zum ersten Mal merkte, dass er stolz auf sie war. Noch nie zuvor war irgendjemand stolz auf sie gewesen, ihre Eltern nicht und nicht einmal
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