Das Maedchen am Klavier
kein freier Platz mehr zur Verfügung steht, so war das Gewandhaus an den vier Oktoberabenden im Jahr 1829, als Paganini hier gastierte, mehr als ausverkauft. Der Andrang war so ungeheuer, dass man vor der ersten Reihe und an den Seiten zusätzliche Stühle aufstellte. Trotzdem gab es immer noch Anfragen, die nicht befriedigt werden konnten. Man hätte im Saal eine zusätzliche Decke einziehen und sie bestuhlen können, und es wäre immer noch nicht genug Platz gewesen. Aus allen Richtungen strömten Musikfreunde und Neugierige herbei. In ganz Leipzig gab es keine Übernachtungsmöglichkeit mehr, und das Essen in den Gasthöfen war noch schlechter und teurer als sonst.
Die Glücklichen aber, die im Geigenhimmel Einlass gefunden hatten, wurden mehr als belohnt. Der kleine schwarzgekleidete Mann mit dem Leichengesicht entlockte seinem Instrument Töne, so leidenschaftlich und polyphon, dass man meinte, ein ganzes Orchester zu vernehmen. Saiten rissen auf offener Bühne, und das Publikum stöhnte auf. Doch Paganini spielte weiter, warf sein schulterlanges schwarzes Haar zurück, ächzte, war Leidenschaft, nichts als Leidenschaft. Durchlebte alles, was die Hunderte zu seinen Füßen gerne selbst erfahren hätten. War Sehnsucht, Liebe, Erfüllung und Verzweiflung. War sein Geld wert, wie der Kassenmeister des Gewandhauses zufrieden bemerkte.
Der glücklichste von allen aber war Friedrich Wieck. Diese Tage der Ekstase waren sein Werk, sein Meisterstück als Impresario. Ein Leben lang würde er darauf hinweisen können, dass er es gewesen war, der den Violingott nach Leipzig geholt hatte.Wer mit einem Paganini erfolgreich verhandelt hatte, dem konnte sich kein anderer Künstler mehr verweigern.
Doch Friedrich Wieck wäre nicht er selbst gewesen, wenn er diesen Erfolg nicht sofort für sein zweites Vorhaben genutzt hätte, sein wichtigstes Projekt: die Karriere seines Wunderkindes Clara. Ein Paganini würde wieder abreisen, doch Clara würde ihren Vater nie verlassen. Ihre Erfolge waren stets auch die seinen. Es bekümmerte ihn nur, dass sie in letzter Zeit so schnell wuchs. So trug er ihr auf, sich von nun an bei Fragen nach ihrem Alter immer um ein Jahr jünger zu machen. Zwei Jahre wären ihm lieber gewesen, aber er fürchtete, in Leipzig überführt zu werden.
Gleich am ersten Morgen ließ er sich mit Clara bei Paganini melden. Er wurde sofort vorgelassen und von dem Künstler mit zwei Wangenküssen begrüßt. Aus der Menge der Begleiter, die sich im Raum drängten, schälte sich ein junger Mann und bot seine Dienste als Dolmetscher an. Über ihn liefen von nun an alle Gespräche, was Friedrich Wieck entzückte. Er fühlte sich als ein Mann von Welt.
Schon am Ende der ersten Zusammenkunft bemerkte er an sich selbst, dass er unwillkürlich das R rollte wie der große Meister. Zudem beschloss er, von nun an dem wilden Wuchs seiner Brauen freien Lauf zu lassen. Wieder einmal hatte der Junge aus Pretzsch, dessen Vater es zu nichts gebracht hatte, ein Vorbild gefunden. Es erschien ihm passender, sich an einem Künstler wie Paganini zu orientieren als an einem vornehmen Höfling wie Doktor Carus.
Der Teufelsgeiger, vor dem sich alle gefürchtet hatten, behandelte Clara mit großer Zuvorkommenheit und Liebenswürdigkeit. Er begrüßte sie mit einem Kratzfuß, wie sie ihn bisher noch nie gesehen hatte, und ließ ihr sagen, sie sei so hübsch, dass er in fünf Jahren wiederkommen werde, um sie zu heiraten. Dann stellte er ihr einen kleinen Jungen von etwa vier Jahren vor. Er sei sein Sohn, der ihn auf allen Reisen begleite. Später werde er sein Nachfolger und noch berühmter werden als sein Vater. Der kleineJunge stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Clara auf den Mund. Sie erschrak und wischte sich ab. Da lachte Paganini und erhöhte die Frist von fünf Jahren auf sieben. Danach verlangte er, sie spielen zu hören. Im Nebenzimmer stehe ein Klavier, nichts Besonderes, aber eine wahre Virtuosin könne sogar einem künstlichen Gebiss angenehme Töne entlocken.
Schon beim Anblick des angekündigten Klaviers stellte Clara fest, dass sie mit einem künstlichen Gebiss besser bedient gewesen wäre. Ein Student, der früher hier gewohnt hatte, hatte es zurückgelassen, weil es nichts mehr wert war. Als Friedrich Wieck das klapprige Instrument mit den hängenden schwarzen Tasten sah, schlug er erschrocken vor, das Vorspielen auf einen Besuch im Hause Wieck zu verschieben, wo erstklassige Instrumente zur Verfügung
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